Corona-Erkenntnisse: Krisenvorsorge

Als schon früh – bevor der Lockdown beschlossen wurde – in den Supermärkten diverse Dinge knapp wurden, waren viele Menschen überrascht und zutiefst betroffen, dass solche Warenengpässe in einer hochentwickelten Industrienation überhaupt möglich sind. Andere Menschen (ich z.B.) hatten sich schon sehr viel früher mit der Möglichkeit beschäftigt, dass im Krisenfalle (wie auch immer der aussehen mag) auch Waren des täglichen Bedarfs möglicherweise nicht zu jedem Zeitpunkt ausreichend zur Verfügung stehen werden. Die Extremform dieser Menschen nennt sich “Prepper”, und die Skala des Vorbereitetseins ist nach oben offen. Zwischen “ich kaufe täglich im Supermarkt ein” und “ich habe einen Bunker mit autarker Strom- und Wasserversorgung sowie Vorräte für mindestens 5 Jahre” ist logischerweise ein weites Feld.

Wie kam es überhaupt zu den Engpässen bei so unterschiedlichen Produkten wie Toilettenpapier, Reis und Hefe? Die einfache Antwort der Volkswirte lautet “Verschiebung der Zeitpräferenz”. Logischerweise ist unser marktwirtschaftliches System auf die monetäre Optimierung des Normalfalls ausgelegt. Von der Produktion über die Lieferung bis zum Verkauf ist die moderne Logistik heute bestrebt, “just-in-time” zu arbeiten – keine Überproduktion, keine Ineffizienzen, kein Wegwerfen von unverkäuflichen Überschüssen, keine teure Vorhaltung von freien Kapazitäten. Ein solches System ist natürlich in jedem einzelnen Schritt anfällig für plötzliche Nachfragespitzen, die nicht kurzfristig zu “normalen” Preisen abgedeckt werden können. Zumal aufgrund der Regulierungsdichte hierzulande die Produktion vor allem von Lebensmitteln eine komplizierte Sache ist und deshalb Großunternehmen stark begünstigt, die dann aber in punkto Flexibilität typischerweise eher schlecht aufgestellt sind. Die Elastizität des Angebots ist eben begrenzt. Und ich meine festgestellt zu haben, dass der Supermarktkunde trotz Krise preissensibel blieb – das Regal mit dem Discount-Reis war leer, das mit dem Premium-Reis blieb voll.

Nun ist hierzulande ja nicht die Gesamtversorgung zusammengebrochen oder haben die Regale DDR-artig gewirkt. Supermärkte haben mit Rationierung gearbeitet (nur eine Packung Toilettenpapier pro Einkauf, nur drei Packungen Nudeln pro Person etc.), weit schärfer der sonst üblichen “haushaltsüblichen Mengen” bei Sonderangeboten. Und wenn die erste Hysterie erst mal abgeklungen ist, normalisiert sich die Lage schnell wieder – bei unbegrenzt haltbaren Produkten wie Toilettenpapier, Nudeln oder Trockenhefe müssen ja die Notfallhorter nicht immer weiter horten, sondern sind erst mal für ein paar Jahre Nichtnachfrager für diese Produkte. So regelt sich das relativ kurzfristig aus, und wer auf größeren Lagerbeständen saß, hatte eine gute Gelegenheit, diese möglicherweise zu einem höheren Preis endlich loszuschlagen.

Und welche Krisenvorsorge habe ich persönlich nun realisiert, also wo auf der Skala des Vorbereitetseins befinde ich mich? Irgendwo in der Mitte würde ich sagen. Meine Vorratshaltung ist recht ausgefuchst und orientiert sich am Mindesthaltbarkeitsdatum und einem rollenden System des Austauschs (FIFO-Prinzip) sowie des langjährig ermittelten durchschnittlichen Bedarfs unter Berücksichtigung des zur Verfügung stehenden Stauraums. Das bedeutet reichlich Vorräte von gängigen Nahrungsmitteln wie Nudeln, Reis oder Kartoffeln, dazu Konserven und ein gut gefüllter Gefrierschrank mit quasi-frischen Dingen wie Gemüse von Spinat über Bohnen bis Blumenkohl. Dazu TK-Fisch vom pazifischen Pollack bis zum Lachs. Ebenfalls gut ausgestattet ist der Bereich “Getränke” mit einem reichlichen Vorrat an Mineralwasser. Ebenfalls im Keller: Vorratsbrot aus der Dose, jahrelang haltbar. Weniger als Krisenvorsorge, sondern weil es wirklich lecker ist und Abwechslung ins Frühstück bringt. Mit entsprechender Rationierung würde ich vermutlich gut zwei bis drei Monate autark über die Runden kommen, ohne das Haus verlassen zu müssen. Klar, keine Luxusversorgung oder gesunde und vollwertige, abwechslungsreiche Ernährung, aber wir reden hier von lebensbedrohlicher Krise und nicht von Luxus. Meine Methode hat zudem den Vorteil, dass sie praktisch kostenneutral ist und keinen Zusatzaufwand bedeutet, wenn man das System mal verinnerlicht hat. Man opfert eben ein wenig Stauraum. Nach den Erfahrungen jetzt würde ich grob “1 Monat” als Mindestvorratsziel empfehlen.

Wo ist der Schwachpunkt bei meiner Krisenvorsorge? Ganz klar: Stromversorgung (und das ist insofern ernstzunehmen, dass unsere Regierung ja mit der schlecht organisierten Energiewende soeben dabei ist, die Sicherheit unserer Stromversorgung aktiv zu sabotieren). Zwar habe ich Holzkohlegrill und Campinggaskocher am Start, aber die Heizung im Haus läuft nur mit Strom, und die Mengen an Kühl- und Gefriergut wären im Falle eines Falles nicht “in time” verarbeitbar, was den Schwaben in mir schmerzen würde. Da herrscht also “Prinzip Hoffnung”, dass ein Stromausfall im Falle eines Falles doch nur eine Woche dauern würde, im Winter gerne etwas kürzer, sonst wird es unschön. Natürlich habe ich recht ausführlich recherchiert zu diesem Thema, aber ein eigener Notdiesel mit ausreichender Leistung ist sehr teuer, die Treibstoffbevorratung genehmigungstechnisch ein Alptraum und die dauernd anfallenden laufenden Wartungsaufgaben ebenfalls nicht zu unterschätzen und dementsprechend teuer. Und wenn man sich schon auf so einen extremen Krisenfall vorbereiten will, sollte man nicht außer Acht lassen, auch eine entsprechende Verteidigungsstrategie für sein krisensicheres Heim zu installieren. Im Falle eines Falles wird man wohl auf Schusswaffen nicht verzichten können – fällt der Strom wirklich länger und flächendeckend aus, wird die öffentliche Ordnung voraussichtlich zusammenbrechen. Recht des Stärkeren und so. Wenn man da in der Straße das einzige Haus mit Licht ist, will ich mir nicht ausmalen, was passieren wird.

Jedenfalls habe ich festgestellt, dass Menschen, die sich vor dieser Krise bereits mit Krisenvorsorge auseinandergesetzt haben und entsprechende Vorkehrungen getroffen hatten, bedeutend ruhiger schlafen konnten. Die anderen können heute nochmal drüber nachdenken, nachdem die Krise nun Gott sei Dank so groß nicht war.

Und jetzt, nachdem eindrucksvoll im Real-Life-Experiment namens Pandemie bewiesen wurde, dass selbst meine Schmalspurkrisenvorsorge offenbar deutlich professioneller war als sie unser Staat betrieben hat, schlafe ich wieder etwas unruhiger. Man stelle sich vor, wir hätten mal eine wirklich große Krise – keine seriöse Vorbereitung, kein professionelles Krisenmanagement, man mag sich die Folgen gar nicht ausmalen.

Corona-Erkenntnisse: Grundrechte

Nie zuvor in der mir erinnerlichen jüngeren Geschichte der Bundesrepublik wurde derart häufig auf “Grundrechte” bzw. das Einschränken derselben verwiesen. In vielen Fällen habe ich festgestellt, dass die meisten Diskutanten dazu neigen, eine sehr enge Sicht auf “Grundrechte” zu haben und gerne das ihnen für den Moment genehme Grundrecht (z.B. “Demonstrationsrecht”).

Sehr häufig, wenn Nichtjuristen über juristische Themen schreiben, kommt vorausschickend der halb erklärende, halb entschuldigende Teilsatz “ich bin kein Jurist, aber…”. Ich habe das auch häufig getan, aber nach längerem Nachdenken gibt es dafür eigentlich keinen Grund. Zwar halte ich die Juristerei für eines der Gebiete, die am wenigsten intuitiv sind (also dem gesunden Menschenverstand zugänglich oder der gesunden Logik des durchschnittlichen Naturwissenschaftlers), aber Jura ist ja kein Selbstzweck, sondern sollte ganz dringend zu denselben logischen Ergebnissen kommen wie eben der gesunde Menschenverstand. Das scheint selten so zu sein, aber was nicht ist kann ja noch werden. Da die Juristen ja auch in den meisten Diskussionen über Ihnen fachfremde Themen nicht mit dem Teilsatz “ich bin zwar kein Informatiker, aber…” oder “ich bin zwar kein Energietechniker, aber…” einleiten – bösartige Vermutung: weil sie der irrigen Meinung sind, dass technisches Fachwissen bei der Beurteilung einer Sache nur hinderlich sein kann – unterlasse ich das hier auch.

Das am häufigsten beklagte eingeschränkte Grundrecht ist nach meiner Beobachtung derzeit die Versammlungsfreiheit, oft “Demonstrationsrecht” genannt. Daran kann man exemplarisch erklären, was denn die Schwierigkeit bei Grundrechten an sich ist. Es gibt nämlich (bis auf die unveräußerlichen Menschenrechte, abgebildet in den nicht änderbaren Grundgesetzartikeln wie “Die Würde des Menschen ist unantastbar”) keine uneingeschränkte, absolute Geltung eines jeden Grundrechts. Quasi jedes der Grundrechte in Deutschland kann über ein spezielles Gesetz eingeschränkt werden, beispielsweise wenn es ein Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen Grundrechten gibt. Dann muss – wie fast immer in der Juristerei – abgewogen werden zwischen den widerstreitenden Interessen. Und natürlich muss auch die immer gerne zitierte “Verhältnismäßigkeit” beachtet werden. Und wie man leicht sehen kann, liegen eben “Abwägung” und “Verhältnismäßigkeit” stark im Auge des Betrachters.

Die gesetzliche Grundlage für diverse Einschränkungen zu Corona-Zeiten ist das Infektionsschutzgesetz. Es erlaubt weitreichende Einschränkungen beispielsweise der Unverletzlichkeit der Wohnung, der körperlichen Unversehrtheit, der Freizügigkeit, der informationellen Selbstbestimmung (kein im Grundgesetz verankertes Grundrecht, aber in der EU-Grundrechtecharta und in der DSGVO verankert) und des Versammlungsrechts. Selbstverständlich unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit – und damit sollte klar sein, dass es hier keine einfachen Wahrheiten gibt. Wer die Prämisse akzeptiert, dass SARS-CoV-2 ein gefährlicher Virus und COVID-19 eine gefährliche Erkrankung ist, dem sollte auch klar sein, dass alleine die Abwägung zwischen des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit im Falle einer Pandemie in direkter Konkurrenz zu vielen anderen Grundrechten steht. Je nachdem, wie man hier Gefahren und Risiken einschätzt, ergibt sich für die Abwägung der Verhältnismäßigkeit natürlich ein komplett anderes Bild.

Was die Versammlungsfreiheit angeht, ist die Gesetzeslage ja per se schon in “normalen” Zeiten stark einschränkend. Zwang zur Anmeldung von – mindestens größeren – Demonstrationen, staatliche Stellen dürfen teilweise erheblich einschränkende Bedingungen für den Veranstalter formulieren und einfordern. Also alles nichts neues – in Stuttgart wurde ja gar mal eine von der AfD angemeldete Demonstration verboten, weil Randale von Gegendemonstranten befürchtet wurde.

Wer sich bezüglich der diversen Grundrechte und ihrer Einschränkungen und generell der Einschränkbarkeit im Detail informieren will, dem sei diese Webseite ans Herz gelegt (leider nicht in allen Teilen ganz aktuell, einige Teile sind noch Stand “vor der Corona-App” und “vor Ende Lockdown”, und insgesamt ist auch ein wenig politische Schlagseite rauszulesen). Wer auswendig den Unterschied zwischen Gesetz, Verordnung, Anordnung und Allgemeinverfügung durchdeklinieren kann und über die unterschiedlich gewählten Wege eines jedes Bundeslandes in der Corona-Zeit referieren kann, ist davon freigestellt. Ebenso Menschen mit starken allergischen Reaktionen bei durchgängig genderneutralen Formulier*ungen.

Jedenfalls kann man festhalten, dass sich zwar recht viele Bürger über vermeintliche und tatsächliche Einschränkungen beschwert haben, aber relativ wenige haben tatsächlich die Instrumente des Rechtsstaates in Anspruch genommen, um gegen diese Einschränkungen zu klagen. Zu viele Klagen rankten sich nach meinem Geschmack um Details wie “reicht dafür eine Allgemeinverfügung oder muss es eine Verordnung sein”, ohne substanziell die Frage der Abwägung der Verhältnismäßigkeit zu berühren. Im vorliegenden Fall einer dynamisch verlaufenden Pandemie ist möglicherweise der ja doch einige Zeit in Anspruch nehmende Rechtsweg auch gar kein geeignetes Mittel – allerdings sieht man daran schon, dass die Einschränkungen ja größtenteils sehr kurzfristiger und temporärer Natur waren.

Als jemand, der mit dem Mittel der Demonstration als angeblicher Grundpfeiler der Demokratie sowieso nicht viel anfangen kann (gegenüber anderen Grundrechten halte ich es für eher nachrangig, für mich hat es den Geschmack “wer am lautesten schreit bekommt seinen Willen”), sehe ich die Frage nach Einschränkungen des Versammlungsrechts zu Pandemiezeiten sowieso eher entspannt. Der geschätzte Blogger Werwohlf hat dazu viele kluge Gedanken zu Buchstaben und Sätzen geformt. Ich stimme nahezu jedem einzelnen Satz nachdrücklich zu.

Zum Abschluss eine Denkaufgabe: wenn man sich erinnert, dass aufgrund von Überschreitungen eines frei erfundenen (also nicht solide wissenschaftlich belegten, sondern politisch beschlossenen) Grenzwertes für den Luftschadstoff “Stickstoffdioxid” teilweise erhebliche Eingriffe in das Leben vieler vor Gericht durchgekämpft wurden, wenn man also diese gerichtlich festgestellte bzw. forcierte “Verhältnismäßigkeit” als Benchmark nimmt, ist es dann nicht geradezu zwingend ebenso verhältnismäßig, bei einer Großdemonstration unter Pandemiebedingungen Abstand und Masken als Bedingungen aufzuerlegen?

Und noch ein nun wirklich abschließender Lesehinweis nach dem eigentlichen Abschluss: ein launiger Kommentar von Thomas Fischer (also aus berufenem Juristenmund) bei SPIEGEL Online zum Thema “Verhältnismäßigkeit”. Herr Fischer mit seiner Kolumne ist vermutlich der einzige vernünftige Grund, das Relotiusblatt zu verlinken.

Corona-Erkenntnisse: Wirtschaft

Viel wurde geschrieben über die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie. Für Deutschland, für Europa, für die Welt. Vieles von dem, was ich dazu gelesen habe, war doch eher eindimensional, oftmals stark fokussiert auf die wirtschaftlichen Auswirkungen diverser Anti-Pandemie-Maßnahmen wie dem berühmt-berüchtigten Lockdown. Damit läuft man Gefahr, zu viele möglicherweise entscheidende, aber schwer zu quantifizierende Faktoren schlicht zu ignorieren.

Zunächst zum Arbeitsmarkt. In den USA waren die Auswirkungen recht dramatisch, mit einem steilen Anstieg im März/April, aber schon danach einer leichten Erholung. Das ist typisch für eine eher marktwirtschaftlich organisierte Volkswirtschaft, wo “Hire & Fire” eine Tugend und kein Problem darstellt. In Deutschland sieht die Sache naturgemäß anders aus. Durch das üppig genutzte und von der Politik kurzfristig sehr viel großzügiger gestaltete Instrument “Kurzarbeit” entsteht natürlich eine große Trägheit im Arbeitsmarkt. Für Entlassungen gibt es zunächst wenig Anlass, die Arbeitnehmer bleiben in Lohn und Brot, die Finanzierung erfolgt über die Sozialversicherungsbeiträge. Ob das Instrument “Kurzarbeit” langfristig eine gute Idee ist, ist schwer zu sagen. Mitnahmeeffekte gibt es sicher, und auch Unternehmen, die vernünftigerweise pleite gehen müssten, werden dadurch eher am Leben erhalten. Arbeitnehmer werden doch eher zum Verbleib an ihrer Arbeitsstätte ermuntert, obwohl sie anderswo als produktive Arbeitskräfte gewinnbringend eingesetzt werden könnten. Zudem ist fraglich, ob die Finanzierung über die AV-Beiträge wirklich gerecht(fertigt) ist, oder ob nicht eher eine Steuerfinanzierung besser wäre.

Jenseits der theoretischen Betrachtungen zur Sinnhaftigkeit des Instruments der Kurzarbeit (wer eine m.E. interessante Sichtweise auf die Dinge in epischer Breite nachlesen will, dem empfehle ich diesen Artikel zur Lektüre) hat das Statistische Bundesamt im Monat Juli weitgehend stabile Verhältnisse bei der Zahl der Erwerbstätigen festgestellt. Mit 44,5 Millionen liegt man hier etwas unter den Zahlen von Juli 2019 und 2018, aber über der Zahl von Juli 2017. Gegenüber dem Vormonat gibt es eine klare Steigerung, gegenüber dem Vorjahresmonat einen ebenso klaren Rückgang.

Weiter zum BIP. Der Einbruch im zweiten Quartal war ziemlich dramatisch: rund 10% ging es nach unten (je nachdem, ob verglichen mit dem Vorquartal oder zum Vorjahresquartal und diversen Bereinigungen bezüglich Jahreszeit und Inflation). Der Export bracht gar um 20% ein (und die Importe waren um 16% reduziert), ebenso die Investitionen in Anlagen wie Maschinen oder Fahrzeuge. Die privaten Konsumausgaben sanken um etwa 10%. Mal als Vergleichswert bezüglich des BIP: während der Finanzkrise 2009/2010 lag das schlimmste Quartal bei einem Rückgang von rund 5%.

Wie sieht die Lage aktuell aus? Druckfrisch vom Statistischen Bundesamt die Info, dass im Juli gegenüber dem Vorjahresmonat die Einzelhandelsumsätze real um 4,2% gestiegen sind. Das weist auf einen gewissen Nachholeffekt hin nach Ende des Lockdowns und der Zeit der extremen Vorsichtsmaßnahmen. Weiterhin ist der Internethandel der große Gewinner mit +15%. Die Gesamtstatistik Januar bis Juli sieht real gegenüber dem Vorjahreszeitraum ein Umsatzplus von 2,6%. Gewinner auch hier der Internethandel und der Lebensmittelhandel, Verlierer z.B. Textilien, Bekleidung, Schuhe. Interessant die Kategorie “Einzelhandel in Verkaufsräumen”, also einem mutmaßlich durch die Krise und vor allem dem Lockdown besonders betroffenen Bereich: +0,1% real. Im Großhandel gibt es bisher nur die Statistik Januar bis Juni, hier liegt man gegenüber dem Vorjahreszeitraum bei real +0,5%.

Ebenfalls interessant die Daten zu den Steuereinnahmen. Bei den Einnahmen aus der Umsatzsteuer sieht man beispielsweise einen Anstieg um 50% langfristig von 2008 vor der Finanzmarktkrise auf 2020 nach dem Lockdown. Selbst der Überkrisenmonat April erreichte noch 85% des Aufkommens von 2008. Der Juli liegt wieder auf demselben Niveau wie der Februar und über dem Januar. Und weit über Juli 2019. Man wird sehen, was die temporäre Mehrwertsteuersenkung hier bewirkt. Bei der Einkommensteuer im Juli sieht man ein ähnliches Niveau wie Juli 2019, aber ein deutlicher Rückgang in April, Mai und Juni. Januar bis März war auf Rekordniveau. Aufgrund von Nachzahlungen von zuvor gestundeten Steuern bedeutet das natürlich noch nicht, dass auch wieder Vorkrisenniveau erreicht ist, es wird spannend sein zu sehen wie sich das am Jahresende darstellt und in Summe ausgewirkt hat. Wird es noch eine Pleitewelle geben? Einen starken Anstieg der Arbeitslosigkeit? Anstieg oder Rückgang bei der Kurzarbeit? Setzt sich der “Rebound” fort, der seit Mai/Juni beobachtet werden kann?

Das Statistische Bundesamt pflegt übrigens einen eigenen Corona-Bereich https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Corona/_inhalt.html mit diversen interessanten Statistiken, auch im Vergleich zur Finanzmarktkrise. Da gab es im Hauptkrisenjahr 2009 einen BIP-Rückgang von 5,7%, in 2010 und 2011 dann zwei starke Wachstumsjahre von jeweils 4%. Wird sich das 2021 und 2022 wiederholen? Das wird maßgeblich auf den weiteren Verlauf der Pandemie ankommen. Nach der Finanzmarktkrise erholte sich die Weltwirtschaft quasi synchron – das muss dieses Mal nicht so sein. Aber das ist Glaskugel, wenn es morgen einen Impfstoff oder ein wirksames Medikament gibt, wird sich die Sache ganz anders darstellen wie eine weiter köchelnde Pandemie bis zur Erreichung der Herdenimmunität vielleicht irgendwann in 2023.

Interessant im Vergleich Corona-Pandemie vs. Finanzkrise finde ich das Monitoring von Schlüsselbranchen wie Automobil, Elektro, Maschinenbau und Chemie. Haben wir überhaupt noch nennenswerte chemische Industrie in Deutschland? Ich bin überfragt. Jedenfalls gibt es hier die Fieberkurve. Man sieht in Corona-Zeiten einen steilen Absturz mit ebenso steiler Erholung (allerdings noch nicht bis zum Vorkrisenniveau, insbesondere bei Elektro und Maschinenbau). In der Finanzmarktkrise hingegen war die Talsohle nicht so tief, aber breiter. Aber es liegen bis jetzt nur Daten bis Juni zugrunde, da ist es noch zu früh von einer nachhaltigen Erholung zu sprechen, und bezüglich des weiteren Pandemieverlaufs: siehe oben. Die genannten Branchen sind ja größtenteils eher exportabhängig, da sind wir auf weltweite Erholung angewiesen. Da besteht doch eine massive Unsicherheit.

Kommen wir zu den Konjunkturmaßnahmen der Politik. Als besonders unsinnig will ich die weiter ausgebaute Förderung von Elektrofahrzeugen anprangern. Die Subvention hat inzwischen absurde Höhen erreicht, und trotzdem will der Käufer nicht so recht. Warum wohl? Vielleicht, weil im unteren bis mittleren Preissegment die attraktiven Angebote nach wie vor fehlen und die bezahlbaren E-Autos maximal Zweitwagencharakter haben? Seit der Subventionierung der sogenannten “Erneuerbaren Energien” wurde staatlicherseits kein solcher Unsinn in diesem Ausmaß befeuert. Was ist von der temporären Mehrwertsteuer zu halten? Immerhin eine einigermaßen “soziale” Maßnahme, aber natürlich mit erheblichen Umstellungskosten verbunden. Die Software, die unterm Jahr einfach mal so den Mehrwertsteuersatz ändern konnte, musste erst geschrieben werden. Wenn schon, dann hätte ich eine Reduzierung des niedrigen Satzes auf 0% forciert, das wäre eine reale Entlastung auch der ärmeren Bürger gewesen. Keine neue Idee von mir, ich hatte das anno 2017 hier thematisiert. Da vornehmlich Unternehmen betroffen sind und weniger die Arbeitnehmer und gar nicht die Menschen in den sozialen Sicherungssystemen sowie die Rentner (zumindest finanziell, als Risikogruppe natürlich schon), würde ich intuitiv eher für eine Subvention übers Finanzamt plädieren. Man hätte beispielsweise die Corona-Soforthilfen einfach basierend auf der letzten Steuererklärung direkt vom Finanzamt auszahlen lassen können. Am Ende des Jahres hätte man dann einfach über die Steuer wieder einen Ausgleich für doch nicht so stark betroffene Unternehmen quasi automatisch integriert gehabt.

Im Moment nicht so richtig aussagekräftig ist die Statistik zu den Insolvenzen. Die Insolvenzantragspflicht ist derzeit bis zum 30.9.2020 ausgesetzt (und diese Aussetzung wird voraussichtlich bis zum 31.12.2020 verlängert), das dicke Ende wird also vermutlich noch kommen. Im Moment ist die Zahl der Insolvenzen auf eher niedrigem Niveau. Würde mich wundern, wenn das so bleibt.

Böse auf die Füße fallen wird uns die kürzlich verhandelte EU-Subventionitis anderer Staaten, aka “Euro-Bonds durch die Hintertür”. Hier sollen Länder wie Deutschland, deren Bevölkerung deutlich ärmer ist als in anderen EU-Staaten, die anderen Staaten erneut aus dem Dreck ziehen. Das wird wieder nicht gelingen, denn die Probleme sind hausgemacht und struktureller Natur. Wann, wenn nicht in dieser Krisensituation könnten die Sorgenkinder von Griechenland bis Italien endlich mal ihrer Bevölkerung substanzielle Sparmaßnahmen zumuten? Solange Deutschland zahlt, wird das logischerweise nicht passieren. Man hat ja an Frankreich gesehen, wie schnell die Politik vor dem Druck der Straße kapituliert. Naja, die Briten haben es mit dem Brexit richtig gemacht und das sinkende Schiff EU verlassen. Britannia, Du hast es besser.

Sorge bereiten muss die Situation in den USA. Das Handling der Corona-Pandemie in einigen Bundesstaaten (überwiegend demokratisch regiert, aber das muss keine Kausalität sein) derart anfängermäßig, dass hier möglicherweise ein größerer Konjunktureinbruch bevorsteht. Natürlich wird in unseren Medien vorwiegend Präsident Trump die Schuld in die Schuhe geschoben, aber gerade die üblen Zahlen aus New York sind ausschließlich dort hausgemacht durch geradezu haarsträubende Fehlentscheidungen. Dazu die üblen Plünderungen und Brandschatzungen der Terroristen unter dem Deckmantel der BLM-Bewegung (oder ist das originär die BLM-Bewegung? Man weiß es nicht), das ist eine ungute Mischung. Wenn sich da einige bewaffnete Bürger diesen Plünderungen entgegenstellen, könnte das Pulverfass explodieren. Da schaut man doch lieber vom alten Kontinent aus zu.

Noch ein genauerer Blick auf die Sorgenkinder unter den Wirtschaftsbranchen. Gaststättengewerbe und vor allem natürlich die Hotellerie und die Tourismusbranche sind übel getroffen, wobei sich einige Gastwirte zunächst über Lieferdienst und dann über die Sommermonate durch Außengastronomie noch recht gut retten konnten. Aber wie soll das im Winter werden? Übel, vermute ich. Und dann die Event-Branche: wenn Großveranstaltungen weiterhin nicht stattfinden, ist das existenzbedrohend. Bei den Kinos hat das Sterben ja schon eingesetzt, wobei das ja schon seit vielen Jahren läuft. Der Ufa-Palast in Stuttgart wird ja beispielsweise nicht mehr wiedereröffnen – und das war einstmals mit 4200 Sitzplätzen eines der größten Multiplex-Kinos Deutschlands. Allerdings war der meines Wissens seit Eröffnung auch noch nie in der Gewinnzone. Beim Thema Kino verdient wohl nur Hollywood. Ganz übel sieht es auch bei den Fluggesellschaften aus – ob das den staatlichen Einstieg bei der Lufthansa unbedingt erforderlich machte? Ich habe keine Ahnung. Und auch ein Blick auf die Schausteller sei gestattet: durch die Absage aller größerer Festivitäten sitzen diese natürlich komplett auf dem Trockenen. Hier vermisse ich die Kreativität der Politik: warum nicht einfach abwechselnd auf einem geeigneten Platz in der Fußgängerzone einem Schausteller erlauben, sein Fahrgeschäft aufzustellen? Sowas müsste doch einfach möglich sein. Nach einer Woche darf dann der nächste. Kein Ersatz für den Cannstatter Wasen oder das Oktoberfest, aber besser als nix.

Und dann gibt es da noch den Bereich “Kultur”. Ebenfalls hart getroffen, im Moment zaghafte Versuche der Wiederbelebung unter Einhaltung der Abstandsregeln – ich glaube nicht, dass das lange gehen wird. Auf der anderen Seite ist der Kulturbetrieb sowieso größtenteils staatlich subventioniert, von daher passt dieser Bereich nicht so richtig zum Thema “Wirtschaft”. Aber die “Kulturschaffenden” sind natürlich von einer solchen Krise besonders betroffen, weil sie üblicherweise keine in der Realwirtschaft nützlichen Fähigkeiten mitbringen. Als Erntehelfer hätten sie gut eingesetzt werden können, da wäre uns mancher Infektionsherd erspart geblieben.

A propos Sorgenkinder: bedenklich könnte sich die Lage der Banken entwickeln, da diese natürlich durch die Krise von einem erhöhten Verlustrisiko betroffen sind und zumindest die Schwergewichte in Deutschland ja eher auf tönernen Füßen stehen. Die Hoffnung, dass die Bafin hier rechtzeitig die Gefahr erkennt, ist seit dem Wirecard-Skandal ja eher nahe dem Gefrierpunkt.

Gibt es nun schon eine Antwort auf die Frage “was kostet ein Lockdown”? Eigentlich nicht. Wie viel des BIP-Rückgangs auf den tatsächlichen Lockdown in Deutschland zurückgeht, und wie viel auf die allgemeine weltweite Pandemiesituation, bleibt wohl noch für längere Zeit ungeklärt. Einbußen in einigen Branchen stehen Zugewinne in anderen Branchen gegenüber – die Tatsache, dass diesen Sommer nur begrenzt deutsches Geld in Spanien, Italien, Griechenland oder der Türkei ausgegeben wurde und stattdessen eher zu Hause für Urlaub und Anschaffungen auf den Kopf gehauen wurde, dürfte eher auf der Haben-Seite wirken. Ob die vorübergehende Kaufzurückhaltung zum Beispiel bei Autos nicht später nachgeholt wird, ist auch noch nicht absehbar. Um letztlich vernünftige Antworten zu bekommen, bräuchte man ein “Deutschland B” ohne Lockdown zum Vergleich. Eine ungefähre Abschätzung erlauben die skandinavischen Länder, da diese in punkto Bevölkerungsdichte und Wirtschaftsstruktur einigermaßen vergleichbar sind, und deren Maßnahmen sich ja gravierend voneinander unterschieden haben. Auf der einen Seite Schweden, das ja mit eher sanften Maßnahmen gegen die Pandemie gesteuert hat, aber in ähnlichem Umfang wie Deutschland BIP-Einbußen hinzunehmen hatte. Auf der anderen Seite Norwegen und Finnland, die einen frühen, kurzen, harten Lockdown-Kurs gefahren sind und inzwischen weitgehend gelockert haben und die Sache mit Abstand, Masken und Kontaktnachverfolgung nebst harten Quarantäneregeln für Wiedereinreisende im Griff zu haben scheinen. Sowohl Norwegen als auch Finnland haben deutlich geringere Einbußen beim BIP zu verzeichnen. Die Finnen beispielsweise sind der Meinung, dass insbesondere die niedrige Erkrankungsrate für die geringen Einbußen verantwortlich ist – man musste kein Geld verschwenden, um vermeidbare Infektionen zu bekämpfen und teure Intensivbehandlung vieler Patienten wurden vermieden. Diese Sichtweise hat durchaus was für sich. Aber es gibt hier so viele Einflussfaktoren, dass wohl jeder hier zu seinem Lieblingsergebnis kommen kann.

Wer einen Gesamtüberblick über möglichst viele – wenn auch nicht besonders detaillierte – Statistiken von Destatis zur Corona-Krise sehen will, kann hier in einem schmalen 69-seitigen PDF-Dokument fündig werden (Stand 20. August). Nicht nur Statistiken zur wirtschaftlichen Lage, sondern auch zur Infektionslage und den Todeszahlen, teilweise bis auf die europäische Ebene. Aber auf großer Flughöhe.

Corona-Erkenntnisse: Politik

Auch im weiten Feld der Politik hat die Corona-Pandemie neue Erkenntnisse gebracht, Vermutungen bestätigt, Missstände ans Licht gebracht und althergebrachtes Wissen erneut validiert.

Neu war für mich, dass es ein für die Zukunft dringend zu beachtendes Signal aus Politikermund gibt. Wenn ein Minister sagt “Wir sind auf die Krise gut vorbereitet”, heißt es: sofort in den Supermarkt, und alles, was nicht schnell verderblich ist, vorratstechnisch für die nächsten 3 Monate aufstocken.

Neu war für mich auch, dass der Staat in seinem Kernbereich “Daseinsvorsorge” quasi nackt dastand. Keine strategische Reserve für den Pandemie-Fall von notwendigen Dingen wie Schutzkleidung, keine Strukturen zur schnellen Reaktion auf solche Krisen, und das obwohl vor etwa 10 Jahren die Bundesregierung eine Studie in Auftrag gegeben hat zur Vorbereitung auf den Pandemie-Fall. Deren Ergebnisse dann einfach zu den Akten gelegt wurden.

Wer sich noch an Angela Merkels Worte in 2015 “man kann eine Grenze gar nicht schließen” erinnert und diese schon immer für total dämlich gehalten hat (vor allem, nachdem Ungarn und Österreich damals vorgemacht haben, wie das doch geht), darf sich jetzt endgültig bestätigt fühlen. Denn plötzlich war es doch wieder möglich, die Grenze zu schließen und dort wirksame Kontrollen durchzuführen. Wer hätte das noch zu hoffen gewagt, dass der Staat im Kernbereich “Schutz der Staatsgrenzen” doch nicht ganz unfähig ist.

Bemerkenswert war auch, dass man an einem Tag die Regierung von Polen und natürlich den Lieblingsgegner Donald Trump für die Grenzschließung verdammt hat, um dann einige Tage später es ihnen gleich zu tun. Ebenfalls bemerkenswert, wie lange man den Flugverkehr aus Hochrisikogebieten wie China und später Italien einfach aufrecht erhalten hat, ohne die Neuankömmlinge wenigstens ein paar Tage in Quarantäne zu stecken. Oder womöglich mit einem Fieberscanner zu arbeiten, wie es Taiwan und Südkorea getan haben. Wohl zu viel High-Tech für ein mittelalterliches Land wie Deutschland. Man muss ja noch froh sein, dass man nicht ein paar Schamanen am Flughafen positioniert hat, die eine Diagnose per Geisterbeschwörung gestellt hätten.

Altbekannt sind die merkwürdigen Strukturen diverser Verwaltungseinheiten vom Landkreis bis zur EU. Dort, wo man die Krise gut einschätzen kann, hat man nicht die Mittel, auf sie nennenswert zu reagieren. Da, wo man den großen Überblick hat, neigt man zu gleichmacherischen Regeln und alle-über-einen-Kamm-scheren. Und noch weiter oben, in diesem Falle bei der EU, ergeht man sich nur noch in absoluter Nutzlosigkeit. Die EU hatte weder in Sachen Krisenprävention noch in Sachen Krisenreaktion irgendetwas beitragen können. Jedes Mitgliedsland war auf sich gestellt, Nachbarschaftshilfe (wie z.B. freie Plätze auf deutschen Intensivstationen für französische Staatsbürger) wurden bilateral unter den Mitgliedsländern verhandelt. Nur als das ganz große Rad der Geldverteilung angeworfen wurde, da war die EU natürlich wieder steuernd dabei. Unterm Strich: das Subsidiaritätsprinzip, oft beschworen in Sonntagsreden der Politik, ist gar nirgendwo in Sicht.

Auch die nahezu vollständige Überflüssigkeit supranationaler Institutionen wie UN oder WHO wurde durch die Krise eindrucksvoll bestätigt. Was die WHO abgeliefert hat, war wirklich zum Heulen. Anfangs Verharmlosung der Situation, offenbar stark von China beeinflusst, wertvolle Erkenntnisse aus Taiwan und Südkorea zum Thema “Übertragbarkeit von Mensch zu Mensch” ignorierend, mit widersprüchlichen Empfehlungen zu Verhaltensweisen – ein einziges Fiasko. Trump hat völlig recht, wenn er dem Laden den Finanzhahn zudreht. Die guten Dinge, die die WHO zum Beispiel mit den Impfkampagnen in ärmeren Ländern tut, kann man auch mit deutlich weniger Verwaltungsoverhead durch direkte Hilfen oder private Hilfsorganisationen erreichen.

Erneut hat sich in der Krise gezeigt, dass unser Bildungssystem hoffnungslos veraltet ist. Quer durch alle Schul- und Bildungsformen war man auf den Fall “kein Präsenzunterricht möglich” nicht im Ansatz vorbereitet. Und das, obwohl die Möglichkeit auf Fernunterricht auszuweichen ja auch im Alltag – wenn man z.B. als Schüler krank zu Hause sitzt – sehr wertvoll wäre. Dass es an einigen Schulen und Universitäten mit dem Einrichten von Fernunterricht nebst Remote-Prüfungen dann trotzdem geklappt hat, ist meist der Initiative einzelner zu verdanken. Und natürlich der heutzutage verfügbaren Infrastruktur bezüglich leicht zugänglicher Konferenzsysteme, nur ausgebremst durch unsere teilweise vorsintflutliche Internet-Infrastruktur. Wer mal am falschen Ende einer zu langsamen DSL-Verbindung versucht hat an einer Videokonferenz mit Screen-Sharing teilzunehmen wird wissen, von was ich rede. Aber was will man erwarten in einem Land, das bezüglich “schnellem Internet” ungefähr auf einer Stufe mit Albanien steht, und in dem “Breitbandausbau” oft beschworen, aber selten durchgesetzt und angemessen unterstützt wird.

Überhaupt Digitalisierung. Besonders unsere diversen Behörden und auch das Gesundheitssystem haben einen absolut beklagenswerten Zustand diesbezüglich offenbart. Gut, keine Überraschung im Land der nutzlosen E-Persos, wo man den E-Post-Brief für eine Innovation hielt, wo man erst neulich die Grundlagen für elektronische Rechnungsstellung schuf und wo die Zulassung eines KfZ zum Behördenabenteuer wird. Oder die Ummeldung des Wohnsitzes. Oder die Genehmigung eines neuen Gartenzauns. Wer mal in Finnland oder in Litauen war, kann sich ungefähr vorstellen, wie viele Jahrzehnte Deutschland hier hinterherhinkt. Und daran erkennt man auch, dass das Grundproblem nicht der oft beklagte “Flickenteppich” wegen unsere föderalen Systems ist – denn zentral auf Bundesebene klappt es ja auch nicht. Von der EU ganz zu schweigen.

Insofern kam es dann auch nicht überraschend, als Details bekannt wurden wie die Gesundheitsämter teilweise die Zahlen zu Neuinfektionen und Verstorbenen meldeten: per Fax. Niederschmetternd. Noch heute fällt häufig das aus meiner Sicht dringend zu nominierende Unwort des Jahres: “Meldeverzug”. Im IT-Zeitalter. Man fasst es nicht.

Kommen wir zum Knackpunkt: wie hat sich die deutsche Politik während der Corona-Krise bis dato angestellt? Da kann ich zu keinem positiven Urteil kommen. Die ersten Maßnahmen kamen viel zu spät, man hätte schon zum Zeitpunkt des Webasto-Falls die Flüge mindestens aus dem asiatischen Risikoraum komplett einstellen müssen, die Grenzkontrollen hochfahren und z.B. wie Taiwan und Südkorea Fieberscanner an den Flughäfen aufstellen müssen. Das Verbot für Großveranstaltungen kam auch reichlich spät, man erinnere sich an volle Fußballstadien bis kurz vor dem Lockdown. Die Schutzmaßnahmen für Pflegeeinrichtungen waren ebenfalls viel zu spät dran. Auch die Testkapazitäten wurden viel zu zögerlich ausgebaut, so dass man lange Zeit die Infektionsketten nur schlecht unterbrechen konnte, weil nur stark symptomatische Personen überhaupt getestet wurden. Dazu das Rumgeeiere bei den Masken, mit einer frühen Maskenpflicht in den öffentlichen Verkehrsmitteln wäre manche Infektion unterblieben.

Mit diesen schlechten Voraussetzungen war meines Erachtens der Lockdown dann nicht mehr ohne erhebliche Risiken zu vermeiden, auch wenn man über dessen Schärfe gerne streiten darf. Gemessen an den europäischen Nachbarn war unser Lockdown ja von der harmloseren Sorte und hauptsächlich von Empfehlungen, die keiner kontrollierte, getragen. Nun hat sich ja im Nachhinein herausgestellt, dass der viel zitierte R-Wert schon vor dem Lockdown unter die “magische” Grenze von 1,0 gesunken war. Daraus aber abzuleiten, dass der Lockdown unnütz war, ist meines Erachtens falsch. Zum einen sank der R-Wert hauptsächlich deshalb, weil viele Firmen schon Anfang März die Mitarbeiter wo möglich ins Home-Office schickten – dadurch wurden viele Ansteckungswege im Keim erstickt. Und schon Mitte März waren die Restaurants, die Läden, die Bars und die Innenstädte weitgehend verwaist. Das hat sehr geholfen. Aber man darf nicht vergessen: die Prävalenz war zum Zeitpunkt des Lockdowns noch sehr hoch, und die Belegungen der Intensivstationen schoss immer noch nach oben. Das Divi-Intensivregister zeigt z.B. am 27.März noch unter 1000 Patienten auf den Intensivstationen der meldenden Krankenhäuser, der Höhepunkt lag aber erst Mitte April vor bei rund 2900, von denen 2100 beatmet werden mussten. Es sollte klar sein, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung für den Lockdown im März nicht absehbar sein konnte, dass die Zahl der Intensivpatienten so deutlich unter der hektisch neu geschaffenen Gesamtkapazität der Krankenhäuser vor allem in Bezug auf Beatmungsplätze bleiben würde. Hinterher ist man eben immer schlauer.

Allerdings muss man auch sagen, dass bei hoher Prävalenz ein R-Wert knapp unter 1 auch nicht wirklich ideal ist – damit die Infektionswelle entsprechend schnell abklingt, wäre irgendwas um 0,7 schon anzustreben.

Letztlich haben wir im europäischen Vergleich vermutlich gerade noch Glück gehabt, den Lockdown früh genug veranlasst zu haben, bevor es richtig bitter wird. Inzwischen sagen die Wirtschaftsexperten ja, dass der geringste Schaden für die Wirtschaft entsteht, wenn ein früher, harter, kurzer Lockdown stattfindet – bzw. der Lockdown aufgrund von frühen, sanfteren Maßnahmen gar nicht erst notwendig wird. Also wie in Taiwan, Südkorea, Norwegen und Finnland, den Corona-Musterländern. Kaum Erkrankte und Tote, kaum Wirtschaftseinbruch.

Corona-Erkenntnisse: Der Virus

Jeder Virus, der Pandemie-Potenzial hat, wird unweigerlich in seinen verschiedensten Parametern mit vergangenen Pandemien verglichen. Die berühmte “Spanische Grippe” von 1918-1920 (Opferzahlen schwanken stark, irgendwo zwischen 20 und 50 Millionen Menschen weltweit), die Hongkong-Grippe Ende der 60er, und in den Nullerjahren die beiden Corona-Viren SARS-CoV und MERS-CoV. Und die meisten werden sich noch an die Schweinegrippe (H1N1, also derselbe Influenza-Stamm wie bei der Spanischen Grippe – 2009/2010) erinnern, einer der vielen Influenza-Untertypen. Dazu die “üblichen” Grippewellen, die je nach Wirksamkeit der vorangehenden Impfkampagne mal mehr oder weniger tödlich ausfällt, die letzte schwere Welle hat Deutschland 2017/2018 abbekommen (hochgerechnet etwa 25000 Opfer, der Virus wurde bei etwa 1800 davon nachgewiesen).

Nicht zu vergessen HIV, angeblich mit etwa 36 Millionen Todesopfern seit 1980 weltweit.

Die Gefährlichkeit eines Virus wird durch verschiedenste Parameter bestimmt. Wie sind die Übertragungswege? Wie infektiös ist ein Träger des Virus, und wie lange? Wie lange ist ein Träger infektiös, bevor sich Symptome einstellen? Gibt es klare Symptome oder unspezifische Allerweltssymptome? Wie viele Infizierte sterben? Gibt es einen wirksamen Impfschutz? Wie hoch ist der Bevölkerungsanteil, der sich als immun erweist bzw. nur leichte Symptome entwickelt? Gibt es eine wirksame Behandlungsmethode? Gibt es wirksame antivirale Medikamente? Gibt es womöglich dauerhafte Spätschäden bei Genesenen? Gibt es infektiöse Träger, die symptomlos sind? Wie lange ist man nach der Genesung vor erneuter Infektion geschützt? Wie einfach kann eine Infektion sicher nachgewiesen werden? Wie einfach wird er von Mensch zu Mensch übertragen? Wie kann man sich wirksam vor Infektion schützen? Gibt es Menschen, die besonders viele andere Menschen infizieren (“Superspreader”), und kann man diese einfach identifizieren? Gibt es einen einfachen Übertragungsweg von Mensch zu Mensch?

Nach dem jetzigen Stand der Wissenschaft muss man festhalten, dass SARS-CoV-2 zu den unangenehmeren Zeitgenossen seiner Zunft gehört. Die gängigen Übertragungswege sind hauptsächlich die Tröpfcheninfektion und wohl auch Übertragung über Aerosole (die ja letztlich sehr kleine Tröpfchen sind), die Virenlast die für eine Infektion ausreicht soll relativ niedrig sein. Schmierinfektionen (gängiger Übertragungsweg bei Grippeviren) spielen wohl eine eher geringe Rolle. Nach Ansteckung ist man relativ lange ohne erkennbare Symptome, es wird von mehreren Tagen berichtet, in denen man den Virus aber schon weitergeben kann, also selbst infektiös ist. Die Risikogruppe für einen schweren Verlauf sind Menschen mit Vorerkrankungen wie Schlaganfall, Herzinfarkt und Diabetes, aber auch Lungenschäden und starkes Übergewicht scheinen Risikofaktoren zu sein. Das Alter spielt eine wesentliche Rolle, da das Alter aber mit Vorerkrankungen korreliert, weiß man nicht genau, inwiefern “Alter” für sich genommen ein Risikofaktor ist. Logischerweise ist auch ein schwaches Immunsystem ein Problem, wie bei jedem Virus. Eine Impfung existiert noch nicht, ob nennenswerte Teile der Bevölkerung bereits immun sind ist ungeklärt, angesichts der Infektionszahlen aber eher unwahrscheinlich, dass das in der Breite der Fall ist.

Die CFR (“case fatality rate” – also die Todesrate unter den symptomatisch Erkrankten) liegt irgendwo zwischen 2% und 5% bei der typischen Altersverteilung in den Industrienationen, wenn die medizinische Versorgung optimal ist. In Deutschland liegt die CFR derzeit bei etwa 4%, Tendenz sinkend (was vermutlich mit den im Schnitt deutlich jüngeren Infizierten zu tun hat, aber genau weiß man das natürlich nicht). Und dann gibt es noch die IFR (“infection fatality rate”), ein Wert, der durch verschiedene Untersuchungen weltweit abgeschätzt wurde auf 0,4% bis 1%. Während bei der CFR normalerweise nur sicher infizierte mit Symptomen und dem typischen Krankheitsbild gezählt werden, wird die IFR über Antikörper-Feldstudien bestimmt und damit auch symptomfreie Virusträger erfasst. Die Heinsberg-Studie von Prof. Streeck war eine solche und kam auf eine IFR von rund 0,4%.

Die Infektiosität, die mit R0 bezeichnet wird (“attack rate” oder “transmissibility”, der deutsche Begriff aus der Infektionsepidemiologie ist “Basisreproduktionszahl”), ist die Zahl, wieviele andere Menschen von einem Infizierten im Durchschnitt angesteckt werden, und zwar für den Fall, dass keine Maßnahmen zur Unterbindung der Weiterverbreitung getroffen werden. Die Abschätzungen schwanken hier enorm, zwischen 1,4 und 4,0. Eine ziemliche Spanne. Aber es gibt hier natürlich auch zig Einflussfaktoren, die je nach Situation stark schwanken – beispielsweise die Bevölkerungsdichte. Und letztlich ist es ja auch im Verlauf einer Pandemie keine Konstante, sondern dynamischen Schwankungen unterworfen.

Vergleicht man nun SARS-CoV-2 mit einem “gewöhnlichen” Influenzavirus, so ergeben sich viele Gründe, warum man SARS-CoV-2 als gefährlicher einstufen muss:

  • infektiöser, vor allem wegen der einfachen Übertragung per Tröpfchen und Aerosolen
  • tödlicher (sehr viel größere CFR und IFR)
  • höhere Wahrscheinlichkeit für Spätschäden, weil das ganze Organsystem betroffen ist und nicht z.B. “nur” die Lunge
  • ungewöhnlich schwere Organschäden, bevor der Infizierte überhaupt Symptome bemerkt
  • Symptome setzen erst spät ein (lange Inkubationszeit) und sind oft unspezifisch
  • viele asymptomatische, aber trotzdem infektiöse Träger des Virus
  • praktisch keine Vorimmunität in der Bevölkerung, keine Impfung verfügbar
  • tendenziell größere Risikogruppe
  • längere Hospitalisierungszeit, vor allem intensivmedizinisch
  • größerer Anteil zu Behandelnder im Krankenhaus
  • größerer Anteil zu Behandelnder auf der Intensivstation

Man könnte sagen, dass SARS-CoV-2 aus Virus-Sicht quasi einen “Sweet Spot” getroffen hat – lange nicht so tödlich wie Ebola, d.h. es bleibt genügend Zeit, um sich von Mensch zu Mensch zu verbreiten. Vor allem relativ lange unauffällig, so dass schon eine weite Verbreitung (in diesem Falle: weltweit) möglich ist, bevor wirksame Eindämmungsmaßnahmen getroffen werden können. Und für eine Verbreitung von Mensch zu Mensch einen guten Übertragungsweg gefunden. Dazu offenbar nicht so locker vom normalen Immunsystem bekämpfbar, d.h. der infizierte Mensch bleibt auch recht lange infektiös.

Um wieviel gefährlicher ist nun SARS-CoV-2 gegenüber einer schweren Grippewelle wie z.B. 2018/2019, als man mit dem Impfstoff gehörig daneben lag? Tja, das ist schwer zu sagen, extrem viele Faktoren spielen hier zusammen. Wenn man sich mal auf Deutschland beschränkt, müsste man wohl sagen, dass SARS-CoV-2 mit allen durchgeführten Maßnahmen etwa um Faktor 5 tödlicher ist als eine Grippewelle, die ganz ohne Maßnahmen “durchgelaufen” ist (und von deren Gefährlichkeit man eigentlich erst hinterher, als man die Übersterblichkeitsstatistik angeschaut hat, recht überrascht war).

Welchen Faktor man ansetzen muss, wenn das Gesundheitssystem, also insbesondere die Intensivstationen, überlastet sind und/oder Maßnahmen zur Eindämmung zu spät oder nur halbherzig ergriffen werden, das steht in den Sternen. Eine Antwort wie “50” wäre nach meiner Einschätzung nicht zu hoch gegriffen. Die Zahlen aus USA, UK, Spanien, Italien, Schweden, Belgien und Frankreich sprechen da eine eindeutige Sprache.

Wie dem auch sei: jeder, der behauptet, es handele sich bei SARS-CoV-2 um eine “gewöhnliche Grippe”, liegt nach derzeitiger Faktenlage komplett und völlig daneben. Ja, es sind beides Viren. Und man sollte seinen Körper möglichst gut auf eine mögliche Infektion vorbereiten (also das Immunsystem stärken – das fängt bei der Kontrolle des Vitamin-D-Spiegels an und hört bei der gesunden Ernährung nebst ausreichend Bewegung an der frischen Luft noch lange nicht auf), und man sollte sich von Situationen fernhalten, wo größere Infektionswahrscheinlichkeit droht. Selbst bei geringfügigen Situationen sollte man seine Mitmenschen vor Infektion schützen. Und damit enden die Gemeinsamkeiten: SARS-CoV-2 spielt bezüglich der Gefährlichkeit in einer völlig anderen Liga.

Corona-Erkenntnisse: Prolog

Seit mindestens 6 Monaten hält der Virus SARS-CoV-2 und die daraus resultierende Erkrankung COVID-19 – umgangssprachlich beides als “Corona” bezeichnet – sowohl die Republik als auch den Rest der Welt in Atem.

Viel wurde schon darüber geschrieben, auch jede Menge Unsinn. Da man jeder Krise ja auch was Gutes abgewinnen soll, werde ich versuchen, meine gesammelten Erkenntnisse zu diesem Themenkomplex in verschiedenen hoffentlich zeitlich eng aufeinanderfolgenden Blog-Posts zum Besten zu geben. Erkenntnisgewinn zu den Themen Politik, Wirtschaft, der Virus und die Erkrankung selbst, Epidemiologie und Virologie aus Laiensicht, Grundrechte und Verbote, Wissenschaft, Medien, Beobachtungen zur Gesellschaft an sich – da sollte für jeden was dabei sein. Ich verspreche in jedem Post eine Menge Kopfschütteln und Unverständnis unterzubringen, und ich bin mir sicher, allein aufgrund der unglaublich polarisierten Meinungslage eben solches auch beim Leser hervorzurufen.

Ich hoffe, meine Motivation und Freizeit reichen aus, um jeden Tag einen Beitrag zu veröffentlichen, zu jeweils einem Themengebiet.

Vielleicht habe ich mich am Ende auch zu einer endgültigen Entscheidung bezüglich “das Virus” vs. “der Virus” durchgerungen. Angeblich neigen sowohl der Lateiner als auch der Fachmann zu “das Virus”, aber ich bin beides nicht.

Die Statistik sagt mir auch, dass dieses mein 100. Blog-Beitrag ist. Naja. Runde Zahlen im Dezimalsystem – wer würde dem schon besondere Bedeutung zumessen.

Problemgruppennachtrag

Zum vorherigen Blogpost ein Nachtrag.

Jeder, der an Neujahr durch die Straßen lief, muss wohl unwillkürlich einen neuen Bewerber um die “Problemgruppe des Jahres 2020” vor Augen gehabt haben: Silvesterfeuerwerker, die ihren Dreck nicht wegräumen. Die Müllmengen, die einfach so auf der Straße rumlagen, waren atemberaubend.

Ich bin kein Fan von Verboten und würde niemals auf die Idee kommen, ein Feuerwerkverbot zu befürworten. Aber drastische Geldstrafen (oder vielleicht mal die Prügelstrafe wieder einführen für besondere Vergehen gegen die Gesellschaft?) für die Verschmutzung unserer Straßen scheint mir angemessen. Würde auch gleich die Raucher erwischen – zwei Fliegen mit einer Klappe.

Wahl zur Problemgruppe des Jahres 2019

Das Thema “Klimawandel” hat alles in 2019 überlagert. Und das auf eine derart ermüdende, schrille und faktenferne Art und Weise, dass es höchste Zeit wird, zum Abschluss des Jahres wenigstens ein einziges Mal gute alte Themen wie “Anstand” und “soziales Zusammenleben” hervorzukramen. Und so rufe ich auf zur Wahl der Problemgruppe 2019 und habe zwei Nominierungen.

Bitte beachten: Gruppenbildung ist eine – gewollte – Pauschalisierung, eine Regel. Keine Regel ohne Ausnahme. Individuen, die einer der genannten Gruppen angehören, dürfen selbstverständlich trotzdem für sich entscheiden, ob sie sich angesprochen fühlen.

Erste Nominierung: Radfahrer. (Werk-)Täglich begegnen sie mir bei meinem Nachessensspaziergang durch die Stadt. Für Radfahrer scheint irgendwie eine eigene Straßenverkehrsordnung zu gelten. Zebrastreifen haben maximal Hinweischarakter, Einbahnstraßen sind unverbindliche Empfehlungen, Gehwege und Fußgängerzonen implizit für Radler freigegeben. Aber wehe, ein verirrter Autofahrer fährt mal langsam und vorsichtig und offenbar versehentlich durch eine heilige Fahrradstraße (da gibt es eine, brandneu in Stuttgart, an der verkehrstechnisch vermutlich dümmsten Stelle der Welt, und führt hauptsächlich dazu, dass Fußgänger auf Zebrastreifen eher als Freiwild betrachtet werden), da versteht der Radfahrer keinen Spaß und wird auch gerne mal laut. Manchmal kommt der Radfahrer aber auch durcheinander und schreit einen Fußgänger an, der es wagt, den Zebrastreifen zu betreten, während sich der Radfahrer diesem in schnellem Tempo nähert. Nicht auszudenken, wenn man beim Radfahren durch einen unnötigen Bremsvorgang wertvollen Schwung verlieren würde! Am Ende würde es gar in sportliche Betätigung ausarten. Das ist natürlich unbedingt zu vermeiden, da müssen Opfer gebracht werden. Anderswo selbstverständlich.

Zweite Nominierung: Raucher. Um das volle Ausmaß an sozialer Inkompetenz der Raucher zu begutachten, genügt ein Blick auf den Boden. Kippen überall. Während der Großteil der Bevölkerung die Idee, seinen Müll nicht einfach auf den Boden zu werfen und andere entsorgen zu lassen inzwischen verinnerlicht hat, ist diese Erkenntnis an den Rauchern unbeschadet vorübergezogen. Umso schlimmer, da jede Kippe letztlich ein kleiner aber leider undichter Giftmüllcontainer ist, denn die Giftstoffe aus dem Rauch konzentrieren sich in nicht unerheblichem Ausmaß im Filter des Zigarettenstummels. Während man anderswo das Eindringen von jedem Nanogramm potenziell gefährlicher Stoffe peinlich genau überwacht und zu verhindern sucht, gilt für die Raucher weiterhin “Feuer frei”.

Nun bin ich ein großer Freund von Hanlon’s Razor, und so stelle ich allen, die sich in den obigen Nominierungen wiedererkannt haben, selbstverständlich frei ob der Grund für ihr schändliches Tun nun eher in grenzenlosem Egoismus, purer Bosheit oder abgrundtiefer Dummheit zu verorten ist.

Es ist entweder meiner guten Erziehung geschuldet oder einer unerklärlichen nachweihnachtlichen Milde, dass im Titel “Problemgruppe” und nicht “Asozialengruppe” oder “Arschlochgruppe” steht.

Nächstes Jahr an der gleichen Stelle: neue Nominierungen. E-Roller-Fahrer versuchen sich gerade zu qualifizieren, aber es ist ein langer Weg an die Spitze.

Über Dinge die niemand haben oder machen muss

Eine beliebte Argumentation, um irgendwelche Verbote zu rechtfertigen, ist “das braucht doch niemand unbedingt”, oder “das ist doch wirklich nicht notwendig”. Aktuelles Beispiel: die Feuerwerksverbotszonen in diversen Städten unter dem Vorwand der notwendigen Senkung der Feinstaubbelastung. Oder des Tierschutzes. Oder <insert favourite reason here>.

Und natürlich ist es richtig, dass kein Mensch wirklich auf ein Feuerwerk oder auf Böller oder sonstwas dringend angewiesen ist. Ebenfalls verzichtbar: mehr als 10 Quadratmeter Wohnraum. Innenraumtemperaturen über 16 Grad. Mehr als Tempo 130 auf der Autobahn. Oder überhaupt Individualverkehr. Fleisch. Südfrüchte. Nichtregionales Obst und Gemüse. Haustiere. Auslandsreisen. Internet. Computer. Supermärkte. Strom. Fließend warmes Wasser. Telefon. Meinungsfreiheit.

Schon komisch. Viele scheinen gerne bereit, anderen etwas zu verbieten, solange sie selbst nicht allzu stark davon betroffen sind oder es zu sein glauben. Siehe beispielsweise Rauchverbot in Kneipen, Diesel-Fahrverbot in Innenstädten oder die ganze Geschichte rund um Hasskommentare, die durch Umsetzung des NetzDG die Meinungsfreiheit heftig ausgehöhlt hat und man sich anschickt, mit der Herausgabepflicht von Passwörtern gar noch einen draufzusetzen.

Die individuelle Freiheit stirbt leise, aber stetig. Gründe für Verbote finden sich immer, und seien sie noch so abstrus. Für “Wehret den Anfängen” ist es schon Jahrzehnte zu spät. DDR 2.0 ante portas. Wer Grund für Optimismus findet, darf mir gerne eine Mail schreiben.

Mehr Klimaschutz: Tempolimit!

Ein allgemeines Tempolimit auf deutschen Autobahnen ist so eine Art Zombiediskussion. Seit Jahrzehnten geführt, ebenso lang mit denselben Argumenten und bis dato mit dem selben Ergebnis – lohnt nicht, wäre höchstens eine symbolische Maßnahme, nicht zuletzt weil es auf den meisten Autobahnabschnitten längst ein Tempolimit gibt. Aber seit die Klimaschutzdiskussion die seltsamsten Blüten treibt, und sich die Ratio aus dem politischen Entscheidungsprozess zumindest hierzulande endgültig verabschiedet hat, rechne ich fest damit, dass das Tempolimit kommen wird. Vermutlich nicht in der Ausbaustufe, die die Grünen in den 80ern gefordert haben (100 km/h), sondern eher in der gemäßigten Fassung (130 km/h), aber selbst darauf würde ich keine Wetten abschließen.

Wie dem auch sei – man soll ja nicht immer nur dagegen sein, sondern Alternativvorschläge machen (obwohl bekanntlich in den allermeisten Fällen die Alternative zu “verbieten”, nämlich einfach “nichts tun”, deutlich zu präferieren wäre, sofern man an der Idee der Freiheit des Individuums noch Gefallen findet). Und so ist mein Vorschlag ebenso einfach wie wenig diskutiert: Tempolimit für die Bahn im Fernverkehr! Für die Rettung der Welt muss diese klitzekleine Einschränkung an Komfort doch drin liegen. Ich würde so 80 km/h vorschlagen, da kann ein ICE ohne größere Reibungsverluste durch den Luftwiderstand entspannt durch die Landschaft rollen.

Vielen ist ja nicht bewusst, wie hoch der Energieverbrauch eines ICE im Fernschnellverkehr tatsächlich ist. Die Bahn hat ja mal groß Werbung gemacht mit dem ICE 3, der angeblich auf ein Energieäquivalent von 1l Benzin pro 100km pro Fahrgast kommen sollte. Das war eine typische Marketing- und Optimistenrechnung, denn verschiedene Dinge, die diesen Wert ermöglicht, können keinesfalls als allgemein gegeben hingenommen werden, denn sie geht z.B. von stets voller Auslastung des Zuges aus sowie von der Idee, man brauche keine zusätzliche Infrastruktur wie Bahnhöfe und Strecken und Weichen, deren Betrieb ja auch nicht insignifikant Energie benötigt. Dem Umweltbericht der Bahn kann man entnehmen, dass die sogenannte “stationäre Energie” etwa 20% der Gesamtenergie frisst. Und auch die Idee, dass die Bahnfahrer natürlich nur von Bahnhof zu Bahnhof reisen wollen und nicht etwa von Haustür zu Haustür, kann wohl nur einem Schienenmenschen logisch vorkommen. Dazu noch der “Umwegfaktor” – schließlich ist das Bahnnetz deutlich weitmaschiger als das Straßennetz – und schon hat man in Summe etwa 4l auf 100km pro tatsächlich beförderter Person. Über den groben Daumen gepeilt ist man damit mit einem modernen Kraftfahrzeug ab 2 Personen auf jeden Fall sparsamer unterwegs. Nicht schon mit einer Person, denn auch beim Auto muss man selbstverständlich diverse stationäre Verbräuche mit einkalkulieren, vom Energiebedarf der Raffinerie bis zum Straßenbau.

Also ist es dringend erforderlich, die Klimabilanz der Bahn aufzupolieren. Und wenn man weiß, dass aufgrund der doch eher kurzen Entfernungen von ICE-Halt zu ICE-Halt die ICE-Höchstgeschwindigkeit nur selten über längere Zeiträume überhaupt gefahren werden kann und sowohl Beschleunigung als auch höherer Luftwiderstand erheblich an der Energiebilanz kratzen – was liegt also näher, als für die allermeisten Strecken im Fernverkehr ein drastisches Tempolimit zur Einsparung wertvollen Stroms zu erlassen. Bei 150 km/h Höchstgeschwindigkeit würde sich an den Gesamtreisezeiten kaum etwas ändern, zudem wäre die Fahrt komfortabler, und man bräuchte nicht für Unsummen spezielle Schnellfahrstrecken in die Landschaft zu pflastern, die auch noch teure Tunnel- und Brückenbauten erfordern, um die notwendigen Randbedingungen wie große Kurvenradien und geringe Steigungen einzuhalten.

Aber langfristig ist das Rad-Schiene-Konzept aufgrund mangelhafter Effizienz sowieso zu beerdigen. Moderne Flugzeuge sind längst pro tatsächlich befördertem Reisenden energieeffizienter als die Bahn und konkurrenzlos schnell. Die dafür notwendige Infrastruktur ist deutlich weniger kosten- und platzintensiv. Die bisherigen Schienenwege kann man als ersten Schritt mal asphaltieren und LKWs und Busse im Kolonnenverkehr drüber fahren lassen. Das erhöht die Streckenleistung erheblich, senkt den Gesamtenergieverbrauch und entlastet die Straße, was wiederum dank vermiedener Staus erheblichen volkswirtschaftlichen Nutzen bringt.

Für die nächste Demo der rationalen Optimisten schlage ich folgende Claims vor: “Fernbus statt ICE” und “Güter auf die Straße”. Des Klimas wegen.