Über Inflation

Das derzeitige Hauptthema neben dem Ukraine-Krieg scheint die allgemeine Teuerung zu sein – kein Tag vergeht, an dem nicht die eine oder andere Gruppe fürchterlich jammert über die höchste Inflationsrate seit Jahrzehnten (im Moment: ähnliche Größenordnung wie zur ersten Ölkrise und kurz nach der deutschen Einheit). Benzin. Erdgas. Heizöl. Butter.

Nun ist die Inflationsrate ja eine Art Dauerthema, vor allem, weil eine Verteuerung stets lauthals beklagt wird, eine Verbilligung hingegen still und leise hingenommen wird – oder kann jemand einen Zeitungsartikel beisteuern von 2015 oder 2020, der die niedrigen Heizölpreise feiert? Allein die Art der Berechnung über einen ständig angepassten Warenkorb als Referenz lädt ja zu ausufernden Diskussionen bezüglich der Repräsentation des eigenen Einkaufsverhaltens in diesem „amtlichen“ Warenkorb ein.

Tendenziell ist für mich das übliche „Inflationsgejammer“ Ausfluss typischer menschlicher Subjektivität. Man setzt Sonderangebote als Referenzpreis, erinnert sich gerne an Schnäppchen aus vergangenen Jahrzehnten – oft noch in D-Mark – und trauert gerne der Zeit hinterher, als die Laugenbrezel noch 10 Pfennige gekostet hat. Auch wenn das schon 60 Jahre her ist und man ja schon zugeben muss, dass die persönlichen Einkünfte seit dieser Zeit doch auch einen üppigen Sprung nach oben gemacht haben. Denn auch das gehört zur Wahrheit: Preise sind letztlich egal, es geht um Kaufkraft und Preis-Leistung.

Schwierig fürs „Gefühl“ sind deshalb vor allem Dinge, die dem ständigen technischen Fortschritt unterworfen sind und – gemessen an der Leistung – heutzutage geradezu unverschämt preiswert sind. Man denke an einen Raspberry Pi, der für 35€ zuzüglich Kleinkram ein vollwertiger Computer ist, der die 5000DM-80386-Mühle mit Windows 3.1 aus 1992 aber sowas von im Regen stehen lässt. Oder Laptops – was Mitte der 90er noch ein kleines Vermögen gekostet hat und nicht unter 4 kg auf die Waage gebracht hat, ist heute preiswerteste Massenware, dabei unvergleichlich viel leistungsfähiger. Was folgt daraus für die Teuerungsberechnung auf Warenkorbbasis?

Man denke an Fernseher. Neulich einen 48″-LCD für 500 Euro organisiert. Es ist noch nicht so lange her, da hat man für einen 28″-Röhrenfernseher ohne mit der Wimper zu zucken 2000 Mark hingelegt, nur weil man zwei Scart-Anschlüsse und einen S-Video-Eingang gebraucht hat. Und hat sich an der Trinitron-Röhre einen Bruch gehoben. Größere Formate waren nur als Rückprojektionsgeräte mit grauenvoller Bildqualität erhältlich. Wie setzt man sowas im Warenkorb an?

Selbst bei Autos – ich erinnere mich noch an mein erstes Auto, ein Opel Kadett D, 1981 erworben, Listenpreis (satte 60 Vergaser-PS, Drehzahlmesser und rechter Außenspiegel mussten extra bezahlt werden) 16990 DM. Einer seiner Nachfolger, ein Opel Astra F von 1992, Listenpreis 19990 DM, wartete dann schon mit 75 Einspritzer-PS, geregeltem Kat, Servolenkung, Zentralverriegelung, ABS, Seitenaufprallschutz und Gurtstraffer auf – schon da sieht man: erheblich mehr Auto fürs (fast) gleiche Geld. Und sparsamer und langlebiger noch dazu. Mein letzter Kandidat, Astra K von 2019, ist mit rund 25000 EUR natürlich schon eine andere Preiskategorie, aber eben auch viel viel mehr Auto. Die meisten Ausstattungsmerkmale waren weder 1981 noch 1992 erhältlich: Airbags rundrum, ESP mit Traktionskontrolle, Navigationssystem mit großem Touchscreen, Bluetooth-Freisprechen, Musik vom USB-Stick, Sitzheizung, Lenkradheizung, Zwei-Zonen-Klimaautomatik, elektrische Sitz- und Außenspiegeleinstellung, Totwinkelüberwachung und Spurwechselassistent, automatische Spurhaltung, Kollisions- und Abstandswarner mit Notbremsassistent, automatisches Fahrlicht und Regensensor, Rückfahrkamera, ganz zu schweigen von einer Bremsanlage auf dem Niveau der allerbesten Sportwagen der späten 90er…und 150 PS. Verbraucht aber trotzdem nur die Hälfte wie der gute alte Kadett von 1981 (bei gleichzeitig quasi Null-Schadstoffausstoß), bei dem man auf der Autobahn den Berg hoch sich lieber mal auf die rechte Spur eingeordnet und in den dritten Gang runtergeschaltet hat.

Ein ganz anderes Beispiel: Telekommunikation. Wer erinnert sich nicht noch an das gute alte schnurgebundene Wählscheibentelefon. Grundgebühr im Monat 27 D-Mark, dafür ein paar Freieinheiten. Ferngespräche absurd teuer, internationale Gespräche noch viel teurer und teilweise handvermittelt. Heute bekommt man einen Mobilfunk-Vertrag inklusive reichlich Datenvolumen ab 8 Euro im Monat, mailt und chattet und telefoniert weltweit kostenlos, gerne auch mal per Videotelefonie. Derartigen technischen Fortschritt in einem Warenkorb abzubilden ist halt schlechterdings unmöglich – wieviel kostet Technologie, die zum Zeitpunkt X noch gar nicht verfügbar war? Oder behauptet man riesige Inflation, weil der Walkman Ende der 80er viel billiger war als zwanzig Jahre später der 160GB-iPod, und beides schließlich demselben Zweck „mobiles Musikhören“ dient?

Wer also unter zu viel gefühlter Inflation leidet: einfach mal über Autos nachdenken. Und Computer. Oder generell „Technik“. Und den wichtigsten Ratschlag beherzigen: es kommt nicht auf den Warenkorb der Statistiker an, sondern auf den ganz persönlichen Warenkorb, und der ist weitgehend beeinflussbar, auch bei den Dingen des täglichen Bedarfs. Die aktuelle Beobachtung aus den Supermärkten der Republik ist, dass zwar die „Normalpreise“ teilweise deutlich angezogen haben (vor allem bei den Discountern und damit allen Discountprodukten, die ja weitestgehend in allen Supermärkten dieselben Preise haben), aber die Sonderangebote oftmals noch auf demselben Niveau von früher liegen – ein Markenartikel im Sonderangebot ist nun oftmals preiswerter als Discount-Artikel. Ausgefuchste Lagerhaltung kann hier einiges an Teuerung ersparen, wie man gerade an Mehl und Öl sehen kann.

Und wer mit diesen Ratschlägen nicht glücklich wird, dem empfehle ich, einfach mal die Preisspitzen als „normal“ zu setzen und sich über den drastischen Preissturz seit diesen Spitzen zu freuen. Heizöl! Heute nur 1,30€ der Liter, der lag noch Mitte März bei über zwei Euro! Und Benzin war in den letzten Wochen auch schon bei 2,30€ pro l, da sind die 1,95€ von vorgestern doch ein Superschnäppchen gewesen.

Es ist eben alles eine Frage der Sichtweise. Und der Zeitperspektive. Als bitteren Beigeschmack notiere ich, dass jetzt die Journaille angesichts absolut gesehen überschaubarer Teuerung am Rad dreht („Enteignung!“), während man der vorherigen Enteignung der Sparer und konservativen Anleger über die Null- bis Negativzinspolitik der EZB eher neutral bis wohlwollend gegenüberstand.

Zum Schluss noch eine wichtige Anmerkung, ohne die kein Artikel zum Themenkreis „Inflation“ vollständig wäre: wie schon in den letzten Jahrzehnten, so ist auch diesmal Politik und Staat Preistreiber Nummer 1. Absurde Zinspolitik der EZB (die ja nur den Statuten nach von der Politik unabhängig ist, faktisch aber mittendrin steckt im Politiksumpf) nebst wahllosen Aufkäufen von Staatsanleihen. Steuer- und Abgabenerhöhungen auf breiter Front, dazu sehr teure Regulierungen allerorten. Die Hausbesitzer warten schon sehnsüchtig auf die neuen Zahlen zur Grundsteuer, da ist ja auch das schlimmste zu befürchten angesichts der Ankündigung „weitgehend aufkommensneutral“. Dazu das neue „Sommerpaket“ aus dem Hause Habeck, da wird für die Besitzer von Öl- und Gasheizungen sicher auch eine böse Überraschung drinstecken. Einige Bundesländer haben die „Solarpflicht“ ja schon länger, kombiniert mit unsinnigen Subventionsanreizen ist das immer ein Rezept für noch höhere Inflation. Nicht zu vergessen das Universalteuerungsmittel „Energiewende“. Denn irgendjemand muss die Zeche zahlen, und am Ende ist es eben immer „der Endverbraucher“, der ja genau deshalb so heißt, weil er am Ende der Einzige ist, der die Kohle für den ganzen Schwachsinn ausgeben muss. Ist der Endverbraucher gleichzeitig auch Steuerzahler (jenseits der Umsatzsteuer natürlich), ist er gleich doppelt gearscht.

Die neue Mercedes-Strategie

Der nicht mehr ganz so neue Mercedes-Chef Ola Källenius hat einen doch recht drastischen Strategiewechsel für die Marke Mercedes verkündet (oder ist es Mercedes-Benz? Am besten, man macht es wie die Badener und nennt alles einen „Benz“ oder wie die Schwaben, für die alles ein „Daimler“ ist). Man will die „Einstiegsklassen“ A-Klasse und B-Klasse auslaufen lassen und sich ganz auf das gehobene Segment und das Luxussegment konzentrieren. Spötter werden sagen: rein von den Preisen her war das ja auch schon die letzten Jahrzehnte so, vor allem aber nicht nur im Bereich Werkstatt-, Inspektions- und Ersatzteilkosten. Manchmal waren die Preise das einzige, was auf „Premium“ hingewiesen hat. Aber ich schweife ab.

Nun sind Strategiewechsel „beim Daimler“ nichts besonders neues oder seltenes. Mal sind es kleinere (man erinnere sich an die Einführung des „190er“ als „Baby-Benz“, der das Oberklasse-Angebot damals zur Mittelklasse hin abrundete), mal größere (Kauf von Chrysler, von manchen als „Merger of Equals“ verbrämt), oder so mittelgroße (A-Klasse und Smart als Einstiegs-Kleinwagen, die neue A-Klasse als jugendlich-sportliches Modell für eine neue Zielgruppe). Und neuerdings die „wir setzen alles aufs E-Auto, und auf China“ das schon ein paar alte Zöpfe wie „T-Modell? Braucht keiner, die bekommen stattdessen alle SUVs“ abgeschnitten hat. Nun also die Rückkehr zur Luxus-Strategie. Erfahrenen Marktbeobachtern schießt da direkt der Maybach-Flop in den Hinterkopf.

Witzig an den ganzen Strategiewechseln ist ja letztlich, dass die Begründungen für egal was durchaus plausibel sind – und man beim Strategiewechsel nie erklärt, warum die diversen Gründe des vorherigen Strategiewechsels nicht mehr vorhanden sind oder gar nie vorhanden waren oder sich nicht wie gedacht ausgewirkt haben. Beispiel: vor geraumer Zeit argumentierte man gerne mit den dringend benötigten Skaleneffekten, und dass Autobauer unter einer Stückzahl von einer Million Fahrzeuge pro Jahr ganz sicher nicht auf Dauer bestehen können werden – das war damals die Begründung für die Chrysler-Fusion, und auch beispielsweise bei BMW für das teure und eher erfolglose Rover-Abenteuer (von dem immerhin Mini als lukrativer Nebenerwerb übrig geblieben ist). Generell erkennt man – um es mal ganz abstrakt zu sehen – das alte Muster vom Management-Strategiependel zwischen „Konzentration auf das Kerngeschäft“ und „Breite Aufstellung, um das Schwankungsrisiko einzelner Marktsegmente abfedern zu können und Skaleneffekte zu erzielen“.

Nun also die hauptsächlich-Luxus-Strategie. Wegen der höheren Gewinnspanne pro Fahrzeug, wegen des Wegfalls der Notwendigkeit die CO2-Bilanz durch Kleinwagen zu schönen, vielleicht auch wegen fehlender Ideen, wie man im Brot-und-Butter-Segment ein absurd schlechtes Preis-Leistungs-Verhältnis erklären will. Man wird sehen, wie sich das ausgeht – wetten würde ich derzeit nur, dass wir in spätestens 10 Jahren eine signifikante Neuausrichtung dieser Strategie sehen werden. Vermutlich mit ein paar altbekannten Argumenten aus den 80ern und 90ern. Besonders witzig wird es, wenn die Regierungen dieser Welt die Idiotie „Elektroautos stoßen 0g CO2 aus, weil der Strom ja aus der Steckdose kommt“ kassieren werden (und die Idiotie „Herstellerflottenverbrauch“ aber gleichzeitig unangetastet bleibt) und es für Mercedes „zurück auf Los“ heißt. Strategien, die auf politische Willkür angewiesen sind, halte ich für eher gefährlich.

Über die Unklarheit der Lage

Seit über zwei Monaten tobt nun der Krieg in der Ukraine. Wie immer während bewaffneter Auseinandersetzungen (und manchmal auch lange danach) ist viel unklar, viel Propaganda beider Seiten ist im Spiel, und die Lage ändert sich sowieso täglich. Ich will mal meine Laieneinschätzung zu diversen Thesen abgeben, die ich über die letzten Tage und Wochen so gelesen habe.

Seit mehreren Tagen hat sich der Angriffsschwerpunkt der Russen in den Osten verlagert. Nach dem Rückzug aus dem Norden (Kiew) und dem sehr verhaltenen Vormarsch im Süden und Südosten (der lange erwartete Vorstoß auf Odessa ist noch nicht erfolgt, und die vollständige Eroberung von Mariupol wird ja von Tag zu Tag verkündet oder abgeblasen oder ist in vollem Gange). In der Ostukraine ist nun ein langsamer, aber scheinbar stetiger Vorstoß der russischen Truppen zu vermelden. Strategie oder Unvermögen? Vor dem Beginn der Offensive wurde viel gemutmaßt über einen massiven, schnellen Vorstoß mit dem Ziel einer zügigen Einkesselung größerer ukrainischer Material- und Truppenansammlungen. Das ist jedenfalls nicht passiert, und ich verstehe ehrlich gesagt nicht ganz, was es den Russen bringen soll, hier nach dem Motto „langsam aber stetig“ vorzugehen. Eigentlich spielt die Zeit aus meiner Sicht eher für die Ukraine, weil längerfristig die Sanktionen des Westens Russland empfindlich treffen und die Waffenlieferungen des Westens in die Ukraine ebenfalls mehr Chancen haben, gewinnbringend eingesetzt zu werden. Das langsame Vorgehen der Russen dürfte eher der Notwendigkeit der Etablierung ausreichender logistischer Unterstützung geschuldet zu sein, das ist seit Tag 1 der Invasion ein Problembereich der Russen.

In einem Artikel las ich, dass die meisten westlichen Waffenlieferungen durch die Russen abgefangen, erbeutet oder zerstört wurden und werden. Das halte ich für extrem unwahrscheinlich, da das russische Militär bis heute keine Luftüberlegenheit etablieren konnte und schon gar keine nennenswerten Truppenteile im Hinterland die Transportwegen bedrohen könnten. Tatsächlich scheint es eher so zu sein, dass die Ukraine durchaus ein paar Nadelstiche gegen Treibstoff- und Munitionslager der russischen Armee auf russischem Gebiet setzen konnten. Nach meiner Einschätzung des bisherigen Verlaufs der Invasion dürften auch kleinere Unterbrechungen der Nachschublinien bedeutende Probleme für die weitere russische Kriegsführung bedeuten. Und wäre ich ukrainischer Stratege, würde ich die Waffenlieferungen als Köder benutzen, um die russische Luftwaffe weiter zu schwächen. Ein paar zerstörte Geschütze kann man immer mal gegen einen abgeschossenen Jet tauschen.

Nach der Hektik der Berichterstattung zu urteilen ist der 9. Mai ein wichtiges Datum – angeblich ist Putin ja geradezu verliebt in „historische Begebenheiten“, und der 9. Mai als Tag der Kapitulation des 3.Reichs war bekanntlich der einzige echte Sieg Russlands in den letzten 150 Jahren. Die Spekulationen reichen von „es wird ein Etappenziel vermeldet“ über „es wird die Generalmobilmachung verkündet“ bis zu „der Atomkrieg beginnt“. Meine Vorhersage: es wird praktisch gar nichts passieren. Putin wird in der Rede an die Nation weiterhin von der „speziellen Militäroperation“ (oder ist es die „militärische Spezialoperation“?) reden, wird die Entnazifizierung von Mariupol feiern, und ansonsten ändert sich nichts. Da ein schneller Sieg nicht gelungen ist, und er m.E. vom Narrativ „das ist gar kein Krieg“ nicht abrücken kann und will, bleiben nicht so viele Optionen, zumindest nicht kurzfristig. Aber da sich Russland aus dem Bereich des rationalen Denkens wohl eher verabschiedet hat, bin ich bei dieser Vorhersage schwankend bis unsicher.

Interessant finde ich die Briefings des russischen Generalstabs. Kein Tag vergeht, wo man nicht zahlreiches zerstörtes ukrainisches Material auflistet (mehr, als die Ukraine überhaupt jemals im Einsatz hatte – scheint eine besonders fortgeschrittene Art des Recyclings zu sein), wo man nicht mehrfach betont dass man „high precision weapons“ einsetzt – man fragt sich schon, ob man die Russen da beim Wort nehmen muss und ihre Angriffe auf zivile Ziele in voller Absicht dank höchster Präzision geschehen, oder ob man „high precision“ stattdessen einfach unter „Propaganda“ ablegen muss und die Zerstörung von Wohnhäusern, Kindergärten und Krankenhäusern eben der klassischen russischen Doktrin „viel hilft viel“ zuzuschreiben ist, inklusive der Nutzung klassischer Artillerie und Freifallbomben. Natürlich nur der Präzision wegen. Präzise innerhalb von ein paar Quadratkilometern.

Auch interessant: seit Tag 1 vermuten diverse – mindestens selbsternannte – Experten, dass die Russen bisher ja nur das alte Sowjet-Material in die Schlacht geworfen haben und das gute moderne Material noch auf seinen Einsatz wartet. Das wäre mal eine kreative Strategie, möglichst viel an Mann und Material zu verschleißen bevor dann die guten Sachen zum Einsatz kommen. Für ähnlich wahrscheinlich halte ich, dass die Moskwa strategisch zum U-Boot umgewidmet wurde.

An mancher Stelle wurde Helmut Schmidt zitiert mit dem schönen Kalenderspruch „Lieber 100 Stunden umsonst verhandeln als eine Minute schießen“. Was sich aus diesem altklugen Spruch für den Ukraine-Krieg ableiten lässt, ist mir unklar – Russland hat nie echt verhandelt, sondern kurzerhand zu den Waffen gegriffen. Da ist es schon angeraten, sich ebenfalls schießenderweise zu verteidigen, denn Worte helfen gegen Kugeln, Granaten, Bomben und Raketen erfahrungsgemäß wenig. Dass man rein prinzipiell immer für eine Verhandlungslösung offen sein soll, ist nicht mehr als eine Binsenweisheit, ohne gleichzeitig zu sagen, wie man sich denn eine Verhandlungslösung vorstellt. Im Moment würde ich von Seiten der Ukraine erst mal mit „vollständige Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine nebst Reparationszahlungen“ ins Rennen gehen, im Gegenzug kann der Westen auf Sanktionen verzichten – wer würde schon Putin weiter entgegenkommen wollen und damit seinen Angriffskrieg auch noch im Nachhinein belohnen? Witzig fand ich eine Argumentationslinie, dass die russische Seite seit Beginn der Offensive ja stets verhandlungsbereit gewesen sei. Ja klar, sie hätten die bedingungslose Kapitulation der Ukraine gerne entgegen genommen, aber ansonsten wären mir keine Verhandlungsangebote russischer Seite bekannt. Die erklärten und damit aus meiner Sicht bis heute gültigen russischen Kriegsziele können jedenfalls kaum Basis für eine Verhandlungslösung sein.

Unklar bleibt auch, was sich die deutsche Regierung – oder ist es nur die SPD? – von dem Rumgeeiere bei den Waffenlieferungen genau verspricht, denkwürdig eingeleitet durch Christine „wir liefern 5000 Helme“ Lamprecht. Besonders absurd scheint mir die Argumentation, dass es ja gar nicht sinnvoll sei, die alten Leo 1 und Marder aus den Beständen der Industrie zu liefern – weil die Ukrainer sind da ja gar nicht ausgebildet und das würde ja alles viel zu lange dauern und wir können ja nicht die Bundeswehr schwächen und und und. Und dann liefert man…Gepard-Panzer, das wahrscheinlich unnützeste und gleichzeitig komplizierteste Gefährt in der derzeitigen Situation. Muss man wohl nicht verstehen. Und es konnte auch noch keiner erklären, wie damals unmotivierte Wehrpflichtige innerhalb weniger Wochen ohne Vorkenntnisse in die Bedienung und Nutzung von Kampf- und Schützenpanzern eingewiesen werden konnten, es jetzt aber unmöglich zu sein scheint, erfahrene ukrainische Kräfte mit diesen Gerätschaften vertraut zu machen (und wenn das tatsächlich einen Monat dauern sollte: damit hätte man schon Ende Februar anfangen können, und das deutsche Altmetall würde schon lange die ukrainische Verteidigung unterstützen). Die Schalter sind auf Deutsch beschriftet! Das ist bei verwaltungsaffinen Behörden wie der Bundeswehr natürlich ein KO-Kriterium, genauso wie die Untauglichkeit für Schwangerentransport und die Nichtverfügbarkeit einer genderneutral formulierten Bedienungsanleitung auf Suaheli. Wer jemals Beispiele für „Bedenkenträgertum“ gebraucht hat: daran herrscht in der Debatte wahrlich kein Mangel.

Auch die völkerrechtliche Debatte glänzt durch Unklarheit. Dass die Lieferung von Waffen für eine Kriegspartei einen nicht automatisch zur Konfliktpartei macht, da scheint noch Einigkeit zu bestehen (und die Gegenargumentation basiert meist auf „wir dürfen Russland nicht reizen, die haben doch Atomwaffen“). Und ja, auf die „Schwere“ der Waffen oder auf die völlig unnütze Unterscheidung „offensiv“ oder „defensiv“ (siehe auch: „Angriff ist die beste Verteidigung“) kommt es da auch nicht an. Letztlich hat Russland in offiziellen Statements ja eh schon reinen Tisch gemacht: es betrachtet alle Länder, die sich erdreisten auch nur freundliche Worte über die Ukraine zu verlieren, als feindliche Partei. Na dann sollte man da auch alle Hemmungen fallen lassen. Das machen die Amerikaner völlig richtig, die mal wieder als einzige gewillt zu sein scheinen, einem Verteidiger westlicher Werte gegen einen nationalistischen Aggressor mit ausreichend Unterstützung zu versorgen. Klar machen das unsere US-Freunde aus purem Eigennutz – aber der Ukraine nützt es schließlich auch. Womöglich sind USA und UK auch die einzigen, die ihre Verpflichtungen aus dem Budapester Memorandum ernst nehmen.

Und damit kommen wir zu etwas, was ganz und gar nicht unklar ist: alle Kommentatoren, die der Ukraine seit Tag 1 die Kapitulation nahelegen, die keine Waffen liefern wollen „um das Leid zu verringern“, die den Krieg um jeden Preis beenden wollen, sind entweder pazifistische Idioten oder sympathisieren heftig mit der Neuauflage des Zaren im Kreml und wünschen sich nichts mehr als russische Hegemonie über Europa. Da bleibt tatsächlich kein Raum für Zweifel bei so einer dargebotenen Gesinnung.

Unklar bleibt hingegen, was Russland sich von den Drohungen des Einsatzes von Atomwaffen verspricht. Sympathien sicher nicht – Angst vor effektiverer Unterstützung der Ukraine? Sieht nicht so aus, als würde das im Falle der USA oder auch UK auch nur ansatzweise funktionieren. Und in Anbetracht der Materiallage hierzulande bezüglich Waffen muss man letztlich auch konstatieren, dass der deutsche Beitrag zur Unterstützung der Ukraine waffentechnisch höchstens knapp über „symbolisch“ einzuordnen ist. Seit über 32 Jahren wird die Bundeswehr hierzulande systematisch ausgebeint, sowohl was das Personal als auch was das Material angeht.

Ganz und gar kristallklar in der jetzigen Lage kann man aber feststellen, dass sowohl die Bundeswehr als auch die europäische Rüstungsindustrie den Beweis der Minimaltauglichkeit noch schuldig bleibt. An die Wand gefahren durch Politiker vom Schlage Struck, zu Guttenberg, von der Leyen, Kramp-Karrenbauer und Lamprecht, unter freundlicher Mitwirkung des jeweiligen Koalitionspartners inklusive Kanzler. Die Hälfte des Materials außer Betrieb, die andere Hälfte nur im „dynamischen Verfügbarkeitsmanagement“ als Buchungsposten verfügbar. Eine einzige Schande. Als kleiner Bub, als man noch Quartett gespielt hat, hatte ich neben den unvermeidlichen Auto- und Flugzeug-Quartett-Karten natürlich auch die militärische Variante mit Fahrzeugen und Panzern. Das war Ende der 70er. Da waren aber die Hauptprotagonisten der derzeitigen Diskussion – Leopard, Marder und Gepard – auch schon mit dabei. Bezeichnend. Und ich fürchte, dass man mit den angekündigten 100 Mrd. EUR „Sondervermögen“ nicht mal in der Lage sein wird, das Material auf Sollstärke aufzurüsten. Da braucht man sich über die Neuanschaffung von modernen Waffensystemen nicht mal entfernt Gedanken machen.