Seit einigen Tagen wird von einer Offensive ukrainischer Truppen im Oblast Kursk berichtet. Die ukrainische Armee ist mit einer unbekannten Zahl von Soldaten – die Angaben schwanken stark, zwischen „ein paar hundert“ und „drei volle Brigaden“ habe ich schon alles gelesen – und einigem schweren motorisierten Gerät (aka „Panzer“) über die russische Grenze gestoßen und recht weit nach Russland eingedrungen. Auch da gibt es keine zuverlässigen Angaben, aber ein paar hundert Quadratkilometer Fläche scheinen es zu sein. Was auch immer das bedeutet – denn vorstoßen und Raum kontrollieren sind bekanntlich zweierlei Dinge.
Nun zerbrechen sich die Experten die Köpfe, wie diese überraschende Offensivaktion einzuordnen ist. Die Einschätzungen schwanken zwischen „sinnlose PR-Aktion“, „Wendepunkt des Krieges“, „cleverer Schachzug“, „letztes Aufbäumen“, „Verbesserung der Verhandlungsposition bei den kommenden Waffenstillstandsgesprächen“ und „keine Ahnung was das soll“.
Wie immer amüsant: die russischen Propagandisten, die gerne „deutsche Panzer greifen wieder Russland an“ ins Feld führen, weil sie den Unterschied zwischen „Wehrmacht auf Vernichtungsfeldzug“ und „Panzer aus deutscher Produktion, die an die Ukraine übergeben wurden“ nicht verstehen können oder wollen. Von Detailunterschieden wie „wer ist der Angreifer“ und „Russland ist nicht die Sowjetunion“ ganz zu schweigen. Wenn die Qualität der russischen PR-Maschinerie eine Indikation für den dort vorhandenen Restverstand ist, würde ich von allen Verhandlungen mit Russland dringend abraten – wer sich so weit von der Realität entfernt hat, kann kein konstruktiver und verlässlicher Gesprächspartner sein.
Einige versteigen sich auch zur Hypothese, die Ukraine hätte den Angriff gestartet, um die NATO mit in den Konflikt zu ziehen. Wie genau das vonstattengehen soll, ist mir nicht ganz klar, aber stringente Logik ist diesen Diskutanten ja eher nicht gegeben, insofern ist das wenig überraschend.
Auf der anderen Seite der Propaganda gibt es aber nicht weniger abstruse Äußerungen. Eine These habe ich gelesen, dass die Ukraine seit Beginn des Konflikts quasi Schwäche vorgetäuscht hat, immer aufgrund einer simulierten Notlage ausländisches Equipment eingesammelt hat, um jetzt zum alles entscheidenden Schlag auszuholen. Aha. Warum dann gerade jetzt der Zeitpunkt war, um diesen Schlag auszuführen, und nicht die Offensive im Sommer 2023, oder die kleine Gegenoffensive Ende 2022, oder erst nächstes Jahr – keiner weiß es. Realitätswahrscheinlichkeit sehr knapp über 0%.
Zurück in die Realität. Was also könnten realistisch betrachtet die Gründe der Ukraine sein, diesen ja zweifellos riskanten Vorstoß, diese grundlegende Taktikänderung, durchzuführen?
Die Idee eines Entlastungsangriffs könnte dahinterstecken. Der Vorstoß zwingt Russland dazu, Truppen zu mobilisieren, um die Ukrainer zu bekämpfen. Wenn Russland dazu Truppen von der ukrainischen Front abziehen muss, könnte das für Entlastung sorgen. Wenn Russlands Logistik zum Truppen- und Materialtransport verwundbar ist, könnte das eine gute Möglichkeit sein, den Abnutzungsfaktor zugunsten der Ukraine zu beeinflussen. Truppen in Bewegung sind leichter auszuschalten als Truppen, die sich in Stellungen eingegraben haben. Vielleicht verspricht sich die Ukraine vom Bewegungskrieg Vorteile. Angeblich ist die Ukraine bei der erfolglosen Offensive 2023 auch an sorgfältig vorbereiteten Minenfeldern gescheitert – Minen sind im Bewegungskrieg und auf eigenem Territorium für die Russen logischerweise weniger nützlich.
Der Angriff könnte auch tatsächlich als PR-Aktion für die heimische Bevölkerung gedacht sein. Nach dem Motto: es gibt nicht nur schlechte Nachrichten von der Front, sondern wir haben noch Reserven, und wir tragen den Kampf jetzt ins feindliche Territorium. Nicht ganz abwegig, denn Russland pflegt ja mit massivem Artillerieeinsatz zu kämpfen. Es wird interessant sein zu sehen, ob sie auf heimischem Gebiet auch das Prinzip „alles plattmachen“ pflegen, oder ob sie da anders (wie?) vorgehen werden. Bisher scheinen Präzisionsangriffe russischerseits eher Mangelware zu sein, man tendiert eher zu flächigem Beschuss und wenig präzisen Gleitbombenabwürfen aus größerer Entfernung. Ob man diese Taktik auf heimischem Terrain auch wählt?
Möglich ist auch, dass es sich um ein letztes Hurra der ukrainischen Truppen handelt. Quasi das Äquivalent der Ardennenoffensive der Wehrmacht 1944 an der Westfront. Unerreichbare strategische Ziele, nicht ausreichend Nachschub, kleinere taktische Erfolge, aber letztlich die Niederlage beschleunigend. Nicht auszuschließen, aber wenig wahrscheinlich. Die Russen kommen bisher nur ein paar Meter pro Tag voran an der gesamten Front, die Lage scheint für die Ukraine also angespannt, aber doch verwaltbar. Ein Äquivalent zur „bend-but-don’t-break-Defense“ im American Football. Und die Ukraine hat ja noch Aussicht auf eine ganze Menge an bisher nicht gelieferten Waffensystemen, vor allem der USA – das, was bisher angekommen ist, war ja nicht wirklich der Rede wert. Ein paar Dutzend Kampfpanzer, ein paar Raketenwerfer, Flugabwehrsysteme, Panzerabwehrsysteme. Da läge natürlich noch deutlich mehr drin, und die Hoffnung auf Lieferung stirbt zuletzt. Ich halte die Lage der Ukraine im Moment nicht für übermäßig verzweifelt, so dass eine Harakiri-Aktion für mich als wenig wahrscheinlich erscheint.
Irgendwo habe ich gelesen, dass die Ukraine ein Signal an die westlichen Unterstützer senden will, nach dem Motto „seht her, die Russen sind keineswegs unverwundbar, wir sind weiterhin offensivfähig, gebt uns mehr Material, dann bringen wir die Sache zu einem guten Ende“. Aus meiner Sicht eine riskante Idee, denn den Kampf nach Russland zu verlagern trägt auch das Risiko, dass die schreckhafteren unter den westlichen Unterstützern plötzlich kalte Füße bekommen und eine russische Kurzschlussreaktion für wahrscheinlicher halten. Gerade die klassischen russlandfreundlichen Teile der deutschen Unterstützer wie der linke Flügel der SPD würde ich da einordnen. Wobei natürlich die Frage ist, inwiefern deutsche Unterstützung in diesem Krieg überhaupt einen signifikanten Wert eingebracht hat. Das Material, das man aus Bundeswehrbeständen noch guten Gewissens abgeben könnte, ist doch sehr überschaubar. Die Flugabwehr war sicher der Hauptteil des deutschen Beitrags, dazu die Finanzmittel für Munitionseinkauf, aber ob da auf Sicht noch viel mehr kommt, ist zweifelhaft.
Eine andere Theorie geht davon aus, dass Russland in den letzten Monaten der Offensivbemühungen so gut wie alles Material eingesetzt hat, um an der Front durchzubrechen oder zumindest die ukrainischen Truppen abzunutzen. Da demnächst wieder die „Schlammzeit“ („Rasputiza“) des Herbstes vor der Tür steht, ergibt sich eine Art natürliche ruhigere Phase der Kämpfe, da raumgreifende Operationen mehr oder weniger unmöglich gemacht werden – eine gute Zeit, um den Soldaten Ruhe zu gönnen und die Lager mit frischem Kriegsgerät wieder zu füllen. Durch den Vorstoß in die Kursker Region hat die Ukraine nun dafür gesorgt, dass diese Ruheperiode für den Feind ausfällt und er sich aktiv mit der Rückeroberung des verlorenen heimischen Terrains kümmern muss – unter Einsatz von wertvollem Material, und natürlich auch den erfahrenen Kampftruppen von der Ukraine-Front. Denn der Einsatz von frischen Truppen, womöglich von Wehrpflichtigen, käme den Russen ja eher ungelegen und müssten womöglich der russischen Öffentlichkeit umständlich erklärt werden.
Eine mögliche Intention der Ukraine könnte sein, dass eine flächige dynamische Verteilung eigener Kräfte in feindlichem Gebiet größere Kräfte des Gegners binden könnte als die bisherigen Kämpfe, die entlang einer definierten Frontlinie eher statisch stattfinden. Nach dem Motto: 1000 Mann und ein paar Panzer an der richtigen Stelle bewirken mehr als im bisherigen Stellungskrieg, wo man ständig in der Defensive ist und zuschauen muss, wie Mensch und Material systematisch vor die Hunde gehen. Gerade Kampfpanzer kann man entlang der bisherigen Frontlinie ja hauptsächlich als gepanzerte Artillerie gebrauchen, aber nicht für ihren eigentlichen Einsatzzweck.
Da in der Region Kursk ein paar Kernkraftwerke stehen – auch vom allseits beliebten RBMK-Typ vulgo „Tschernobyl-Typ“ – kam auch die These auf, dass die ukrainischen Streitkräfte diese Kraftwerke erobern will und dann…was? Gegen das von Russen besetzte KKW in Saporischschja eintauschen? Es in die Luft jagen oder anderweitig sabotieren? Halte ich für extrem unwahrscheinlich, die Risiken sind hoch, der mögliche Gewinn niedrig. Bisher war die Ukraine nicht mit im Rennen bezüglich „Schaden für die Zivilgesellschaft des Gegners maximieren“ und hat sich die Munition gespart, um militärische Ziele anzugreifen. Wenn man die Stromversorgung im Oblast Kursk sabotieren will, gibt es sicher billigere und einfachere Möglichkeiten, als ausgerechnet ein Kernkraftwerk zu zerstören.
Vielleicht zielt der Angriff auch darauf ab, die russische Zivilbevölkerung direkt in den Konflikt zu involvieren. Die Berichte aus Russland und auch die Art und Weise, wie der Kreml kommuniziert („Spezialoperation“ statt Krieg, und jetzt „Anti-Terror-Einsatz“ um den ukrainischen Vorstoß zu bekämpfen) und wie bisher die Mobilisierung russischer Truppen ablief, legen nahe, dass der Krieg weit weg ist im Bewusstsein der Zivilbevölkerung. Viele vertreten die Auffassung, dass ein Ende des russischen Krieges gegen die Ukraine nur kommen kann, wenn Putin abtritt – oder abgetreten wird. Oder ein Afghanistan-/Vietnam-Szenario eintritt, die „Heimatfront“ also zunehmend die Sinnhaftigkeit des Unterfangens in Frage stellt. Kann ich mir in Russland auf kurze Sicht (ein paar Jahre) nicht vorstellen, Putin scheint erst mal alles im Griff zu haben, und aus Ermangelung unabhängiger Medien und staatlich kontrollierter Propaganda erscheint es mir unwahrscheinlich, dass breite Teile der Bevölkerung gegen den Kreml wirksam opponieren. Sowas dauert typischerweise Jahre und muss lange köcheln.
Überraschend fand ich die Berichte, dass die ukrainischen Truppen eine ganze Menge Kriegsgefangene gemacht haben. Das könnte als Faustpfand für einen Gefangenenaustausch, durchaus in der Zukunft nützlich werden. Aber ob das als Grund ausreicht für eine solche verwegene Operation? Vermutlich ist das eher als Beifang zu werten, sozusagen ein nützlicher Nebeneffekt.
Als eher unwahrscheinlich stufe ich die Theorie ein, dass die Ukraine jetzt daran arbeitet, ein Verhandlungsfaustpfand zu generieren, um in kommenden Friedensverhandlungen russisches Gelände gegen ukrainisches Gelände zu tauschen. Denn um Gelände nicht nur zu erobern, sondern auch zu behaupten, braucht es eine Menge mehr Personal als die Ukraine im Moment (vermutlich) einsetzt.
Denkbar wäre aber, dass die Ukraine durch den Vorstoß hofft, Infrastruktur im russischen Hinterland einfacher angreifen zu können – Flugplätze, Waffendepots, Treibstofflager, Logistik. Denkbar, aber räumliche Vorstöße in der Größenordnung von vielleicht 30km scheinen mir dafür etwas zu sparsam zu sein. Auch auf russische Nachschublinien dürfte der Vorstoß wenig Auswirkung haben, dazu ist die kontrollierte Fläche schlicht zu klein. Es gab Berichte, dass mehr oder weniger entscheidende Teile des russischen Eisenbahnnetzes ein Ziel sein könnte, aber auch hier: Vorstoß in zu kleinem Maßstab, das wird wenig ändern. Wertvoll könnte hier höchstens sein, dass die Russen Zeit brauchen, um sich auf die Änderungen einzustellen.
Für mich überraschend ist, dass die Ukraine überhaupt Offensivfähigkeit demonstriert. Die Berichte über die stark angespannte Lage und dem quasi-nichtvorhandensein von Reserven auf ukrainischer Seite könnten übertrieben gewesen sein, sonst hätte man in der ersten Woche des Kursk-Vorstoßes eigentlich irgendwo einen relevanten Fortschritt der russischen Angriffsbemühungen entlang der Frontlinie sehen müssen – eben dort, wo die Front ausgedünnt wurde, um die Invasionskräfte zusammenzustellen. Davon ist aber nichts an die Öffentlichkeit gedrungen, nicht mal die russische Propaganda hat bisher diese Hypothese aufgestellt. Von daher: sehr unwahrscheinlich, wenn auch nicht unmöglich.
Ebenfalls überraschend: seit Beginn des russischen Angriffs wird uns erzählt, dass das Schlachtfeld quasi transparent sei und vollständig aufgeklärt. Satelliten, Drohnen, you name it. Wie konnte die Ukraine hier derart überraschend Truppen zusammenziehen und losschlagen?
Eventuell hat die Ukraine nun auch Schlüsse gezogen aus der haushohen Artillerieüberlegenheit der Russen und war es leid, sich im Quasi-Stellungskrieg Stück für Stück auseinandernehmen zu lassen. Erfolgreiche ukrainische Operationen während des Krieges fanden bisher stets überraschend statt, aus der Bewegung, bei schnellen Vorstößen. Möglicherweise will nun die Ukraine die Kommandostrukturdefizite des Gegners – die russische Armee gilt ja als eher „kopflastig“ und wenig flexibel bei schnellen Änderungen der Lage – zu ihrem Vorteil nutzen und glaubt, bei sich dynamisch ändernden Situationen im Vergleich besser abzuschneiden als beim statischen Verteidigungsmodus mit Materialschlachtcharakter, wo letztlich durch die materielle und personelle russische Überlegenheit das böse Ende vorgezeichnet scheint. Nicht unplausibel.
Wie auch immer die Operationsziele der Ukraine aussehen: bisher scheint es die russische Strategie gewesen zu sein, die eigene Grenze weitgehend unverteidigt zu lassen – ein paar Grenztruppen, ein paar Wehrpflichtige, mehr so eine Alibi-Veranstaltung. Das wird sich Russland vermutlich schon aus innenpolitischen Gründen in Zukunft nicht mehr leisten können. Was heißen könnte, dass entweder Truppen aus anderen Landesteilen abgezogen werden, um die Grenze zur Ukraine auch grenznah verteidigen zu können, oder es müssen Truppenteile aus der Ukraine abgezogen werden. Ersteres erhöht das Risiko für Russland, dass ein paar aufmüpfige Gruppen oder Regionen Morgenluft wittern und die Russen plötzlich an mehr als einer Front kämpfen müssen, würde der Ukraine also helfen. Zweiteres würde der Ukraine ebenso helfen: die russischen Offensivbemühungen entlang der Frontlinie würden dadurch zweifellos geschwächt.
Zum Abschluss noch eine sarkastische Anmerkung: die russische Aufregung bezüglich des jetzt stattfindenden Kampfes auf russischem Territorium ist völlig unbegründet. Denn laut Kreml-Diktion findet ein solcher Kampf ja schon länger statt: seit Russland die Annektion der diversen ukrainischen Oblasten verkündet hat. Also: alles business as usual. Ich verstehe gar nicht, warum Putin den jetzt erfolgten Vorstoß als „Provokation“ versteht, völlig unlogisch. Um noch eine Schippe draufzulegen: Putin freut sich über den Angriff, denn endlich bekommt er seine lang ersehnte größere Pufferzone zur NATO!