Grundsätzliche Überlegungen zum Fortgang des Krieges

Vieles wurde schon geschrieben, viel wird spekuliert, in die eine oder andere Richtung. Das will ich doch jetzt auch mal versuchen.

Als gegeben nehme ich mal hin, dass der jetzige Status Quo für beide Kriegsparteien nicht annehmbar ist. Wer auch immer nach Verhandlungen ruft, hat den Schuss nicht gehört. Die Russen wollen eine vollstände Eroberung der Ukraine inklusive Einsetzen einer Marionettenregierung und anschließender Säuberung von den vielen Millionen Nazis in der Ukraine. Die Ukrainer wollen eine vollständige Wiederherstellung der Landesgrenzen von 2014. Inklusive Krim selbstverständlich, die völkerrechtlich bekanntlich klar zur Ukraine gehört, eigentlich auch garantiert von Russland. Früher mal.

Klar scheint mir auch, dass ein Verhandlungsergebnis mit dem heutigen Russland keinen Schuss Pulver wert ist. Bestehende Verträge, selbst bei so Kleinigkeiten wie Gaslieferungen über Nord Stream, wurden gebrochen. Die großen völkerrechtlichen Verträge wie das Budapester Memorandum und die NATO-Russland-Grundakte ebenso. Wer sollte darauf vertrauen, dass ein Vertrag mit Russland irgendeine Bedeutung hat? Minsk/Minsk II (da war Russland nur Verhandlungspartei, aber nicht Vertragspartei – auch so eine merkwürdige Konstellation, die direkt aus dem Hirn von Angela Merkel stammen könnte) als letztes Beispiel, das hat bestenfalls ein paar Tage gehalten. Man lese die Berichte der OSZE-Beobachtermission aus 2014ff.

Es erscheint demzufolge wahrscheinlich, dass es einen längeren Krieg gibt. Die entscheidenden Faktoren werden also Personal, Material, Taktik und Strategie sein. Beim Personal sehe ich eher ein Patt. Zwar hat die Ukraine natürlich eine sehr viel kleinere wehrfähige Bevölkerung, aber Russland hat eine deutlich schlechtere Mobilisierungsposition – Russland muss auch andere Grenzen sichern, Russland kann schwerlich eine Generalmobilmachung für eine militärische Spezialoperation begründen, Russland muss auch seine industrielle Produktion für die Kriegswirtschaft am Laufen halten. Nicht zu vergessen die Nahrungsmittelproduktion – durch den Verfall des Rubels ist Russland quasi nicht in der Lage, diese Dinge aus dem Ausland zu beschaffen. Und wenn das Volk hungert, wird es schnell ungemütlich. Die Ukraine hingegen kann vollständig mobilisieren für den Kampf und den Rest an die westlichen Unterstützerstaaten auslagern – Industrieproduktion, Nahrungsmittelproduktion, und das alles quasi ohne Bezahlung als Spende.

Beim Material sehe ich die Dinge auch eher ausgeglichen, tendenziell mit leichten Vorteilen für die Ukraine. Russland ist in der Lage, Low-Tech in erheblichen Mengen selbst zu produzieren – Artillerie, Munition, Schusswaffen, Raketen, Marschflugkörper, Gleitbomben – das sollte alles kein Problem sein. Bei komplexerem Kriegsgerät wie Präzisionsmunition, Kampfpanzer, Kriegsschiffe oder Kampfflugzeuge würde ich schon eher ein Fragezeichen setzen. Selbst Kriegsgerät von der Qualität der noch 1990 von der SU produzierten Waffen wie ein T-90 oder eine Mig-29 würde ich für schwierig halten – die Produktionsanlagen wurden abgebaut, ob da noch qualifizierte Fachkräfte vorhanden sind um das wieder zeitnah aufzubauen ist zu bezweifeln. Neueres Kriegsgerät krankt daran, dass reichlich Zeugs vom Weltmarkt eingebaut wurde – da ist jetzt die Beschaffung diverser Komponenten durch das Sanktionsregime erheblich erschwert, wenn auch nicht verunmöglicht. Wenn die diversen Beobachtungen zu den eingesetzten Waffentypen von Oryx & Co stimmen, wird das Material immer älter (sprich: kommt aus den eingelagerten Beständen) anstatt jünger. Irgendwo habe ich gelesen, Russland würde jetzt pro Monat 200 neue Kampfpanzer produzieren – an der Front wurden diese jedenfalls noch nicht gesichtet.

Die Ukraine hat da gänzlich andere Probleme, da sie weitestgehend am Tropf der westlichen Unterstützer hängt. Dort sind die Bestände zwar noch in ausreichender Zahl vorhanden, aber logistisch ist es natürlich ein Alptraumszenario, gleichzeitig schwedische, französische, britische, amerikanische und deutsche Kampfpanzermodelle in die Schlacht zu werfen. Andererseits besteht hier noch ausreichend Eskalationspotenzial – in den Arsenalen schlummern noch jede Menge Waffensysteme, die noch nicht ins Schlachtfeld geführt wurden. Siehe im Moment die Diskussion über die Taurus-Marschflugkörper. Vor allem westlichen Kampfflugzeuge sind momentan ja noch vollständig abwesend, da gäbe es noch reichlich Potenzial. Die Frage ist da eher, wann und ob geliefert wird. Auch die Idee, dass nicht ausreichend nachproduziert werden kann, halte ich für abwegig. Punktuell hat man schon gesehen, dass mit ein paar Monaten Vorlauf praktisch alles in Richtung Munition und Ersatzteile in erheblichen Mengen nachproduziert und instandgesetzt werden kann. Sogar, wenn die Entscheidungswege so lang sind wie bei unserer Bundesregierung.

Bei Taktik und Strategie sehe ich den Vorteil auch eher auf Seiten der Ukraine. Die Russen haben sich bisher in diesem Konflikt selten dämlich angestellt, vermutlich hauptsächlich aufgrund der Überschätzung der eigenen Stärke und Fähigkeiten. Seit dem Reality Check haben die Russen wenig mehr zustande gebracht als sich einzugraben, defensive Stellungen zu errichten und maximal noch Nadelstiche zu setzen. Was soll denn das für eine Strategie sein? Dass Russland ernsthaft glaubt, einen Abnutzungskampf, eine Materialschlacht gegen die westliche Industrieproduktionskapazität zu gewinnen – unverständlich. Vielleicht sollten sie mal ein paar Historiker und Sachverständige zum vorigen Weltkrieg befragen, auf wessen Unterstützung Russland damals massiv angewiesen war.

Ich würde mein Geld auf die Ukraine setzen. Von der Wankelmütigkeit der westlichen Unterstützer, auf die Putin wohl hauptsächlich gesetzt hat, ist im Moment noch wenig zu sehen. Dass ein möglicher Wahlsieger Trump da einen entscheidenden Unterschied macht, glaube ich nicht – für die USA ist es doch strategisch eine goldene Gelegenheit, das konventionelle Arsenal eines alten Feindes dramatisch abzurüsten, ohne eigenes Personal dafür in den Krieg führen zu müssen. Diese Sachlage lässt sich einem “Dealmaker” wie Trump sehr einfach erklären. Jeder russische Panzer, der in der Ukraine zerstört wird, ist eine Sorge weniger für die NATO und die USA. Und die Europäer wissen genau, dass ein Sieg Russlands für sie sehr teuer werden würde – alleine die Masse an Flüchtlingen aus der Ukraine wären kaum bewältigbar.

Auf der anderen Seite muss man natürlich konstatieren, dass die Chancen der Ukraine auf einen vorteilhaften Ausgang nur existieren, solange die westlichen Unterstützer weiterhin willig sind. Und nur weil eine weitere Unterstützung nach gesundem Menschenverstand geboten und vernünftig ist, heißt das noch lange nicht, dass unsere Politiker das Gebotene und Vernünftige auch tatsächlich tun werden. Eine Art Restrisiko.

Bergkarabach und was das über Russland aussagt

Ist der erste Dominostein gefallen, oder ist es einfach bloß Zufall ohne weitere Bedeutung? Ich habe in vorherigen Posts zum Thema mal den Verdacht geäußert, dass sich an Russlands Rändern bzw. den ehemaligen Sowjetrepubliken durch die unterirdische Performance des russischen Militärs einige Player ermutigt fühlen könnten, mal schnell Fakten zu schaffen, während der Großteil der russischen Truppen in der Ukraine damit beschäftigt ist, eine Niederlage zu vermeiden oder zumindest hinauszuzögern.

Nun hat also Aserbaidschan (oder Azerbaijan in der englischen Sprachwelt) als erstes Fakten geschaffen und die armenische Enklave Bergkarabach, auch Nagorny Karabach (oder Nagorno-Karabak in den US-Medien) genannt, annektiert. Oder befreit. Oder befriedet. Oder besetzt. Kommt drauf an wen man fragt.

Nun ist das – die Armenier werden das vielleicht anders sehen – weltpolitisch gesehen völlig unbedeutend, wem dieser Landstrich, der seit den 20ern des letzten Jahrhunderts umstritten ist, nun letztlich “gehört”. Aber: als das letzte Mal dort Zoff war, hat Russland eingegriffen auf der Seite der Armenier, und hat gar “Friedenstruppen” da gelassen. Man kann also davon ausgehen, dass der jetzige Zustand nicht die ungeteilte Zustimmung Moskaus erfährt. Und es sieht nicht so aus, wie wenn Moskau etwas dagegen tun kann oder will.

Mal sehen, ob sich das nun weiter ausbreitet. Georgien, Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Kirgisistan, Moldau…da ist noch Luft nach oben. Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch. Aber ein Alarmsignal für den nahenden russischen Zusammenbruch wäre wohl nur, wenn sich Weißrussland abwendet.

Ukraine-Update

Nach langer Zeit wollte ich mal wieder was zum aktuellen Stand des russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine schreiben. Stellt sich raus: meine Beschreibung vom September 2022 – ja, das ist schon über ein Jahr her – ist eigentlich immer noch zutreffend. Mit leichten Detailabweichungen bei den anstehenden Waffenlieferungen an die Ukraine.

Die seit längerem andauernden Offensivbemühungen der Ukraine haben jedenfalls noch keine signifikanten Erfolge gezeitigt, allerdings sagt das für die Zukunft wenig aus – Geschichtsinteressierten sei der “schwarze Tag des deutschen Heeres” von 1918 zu Studienzwecken ans Herz gelegt. Es scheint im Moment ein Stellungs- und Abnutzungskrieg zu sein, und aus meiner Sicht ist längerfristig unklar, ob das eher den Ukrainern oder den Russen in die Hände spielt. Die notwendigen Daten zur Bewertung wie z.B. inwiefern die russische Rüstungsindustrie in der Lage ist, ausreichend Material zu produzieren, verstecken sich im Nebel des Krieges.

Ähnlich wenig Berichtenswertes gibt es übrigens von der Scholzschen Zeitenwende. Nicht mal den adäquaten Ersatz für an die Ukraine geliefertes Material hat die Bundeswehr bzw. das Verteidigungsministerium bis jetzt in die Tat umgesetzt, und die ursprünglich versprochene Kombination aus “100 Mrd. Sondervermögen + 2% Ziel” ist schon lange ad acta gelegt worden – das denkbare Maximum scheint derzeit eine Auffütterung des Verteidigungshaushalts durch das Sondervermögen auf das 2%-Ziel in den kommenden paar Jahren. Wobei die Personalsituation bei der Bundeswehr nun auch nicht so aussieht, wie wenn man das allerneueste Material in großen Mengen überhaupt einsetzen könnte. Aber wenigstens könnte man versuchen, das alte kaputte Material instandzusetzen oder zu ersetzen. Und vielleicht mal einen anständigen Munitionsvorat anzulegen – Munition soll ja wichtig sein im Gefecht, habe ich als Ungedienter jedenfalls mal gehört.

Ukraine-Update – kein Mangel an Phantasie

Seit meinem letzten Ukraine-Update von Anfang September letzten Jahres hätte es viele Gelegenheiten gegeben, über den weiteren Verlauf des russischen Angriffskrieges zu spekulieren. Beispielsweise nach Beginn der russischen Winter-Offensive, wo man sich bis heute fragt, ob die eigentlich stattgefunden hat oder ob Russland so schwach ist, dass man trotz Konzentration aller verfügbaren Kräfte es gerade mal für einen Pyrrhus-Sieg in Bachmut gereicht hat. Oder alles einer cleveren, aber bisher undurchsichtigen Strategie der Russen folgt, um welches-Ziel-auch-immer zu erreichen. Oder die ganzen Geschichten zu den Waffenlieferungen von Schützenpanzern über Kampfpanzer bis hin zu F16-Kampfflugzeugen, und ob es jetzt 16 oder doch 18 deutsche Leo 2 sein werden. Oder warum die bei der Bundeswehr lange ausgemusterten Gepard-Flakpanzer in der Ukraine als ein sehr beliebtes und erfolgreiches Waffensystem reüssierten. Oder die langdauernde Vorbereitungsphase der ukrainischen Gegenoffensive, die eventuell oder auch nicht dann tatsächlich im Mai begonnen hat. Oder über die ausbleibenden Fortschritte dieser Offensive nebst Verlust “westlicher Panzer”, die so natürlich niemals nicht hätten passieren dürfen – schließlich ist so ein Leo 2 bekanntlich unverwundbar und topmodern mit seiner Grundkonstruktion aus den 70ern, so eine High-Tech-Kiste kann ja niemals auf dem Schlachtfeld ausfallen. Dann die Sprengung des Kachowka-Damms (“Die Russen waren es! Nein, die Ukrainer! Alles von den Amis eingefädelt! Das waren doch diese britischen Marschflugkörper, die sind extra dafür geliefert worden! Nein, die Russen wollten doch nur ein kleines Loch reinsprengen und dann haben sie es verkackt!”). Unwillkürlich fühlte man sich auf der Suche nach Schuldigen an die Sabotage der Nordstream-Pipeline erinnert, wo ja auch jeder seine Lieblingstheorie hat.

Und nun die große Wagner-Revolution. Was Freitag noch wie ein großangelegter Putsch mit durchaus guten Erfolgsaussichten aussah, entpuppte sich einen Tag darauf als Revolutiönchen, das schneller im Sande verlief als irgendjemand glauben mochte. Und unter allen Ereignissen dieses Krieges ist es eins der rätselhafteren, und da gibt es ja wahrlich genug Konkurrenz. Einige brachten die Theorie ins Spiel, Prigoschin sei von den Amis gekauft worden, um Putin zu eliminieren. Das war zu Anfang vielleicht noch eine zumindest plausible Hypothese, aber nach der Exil-in-Weißrussland-Auflösung zunehmend unwahrscheinlich. Dann gab es die Idee, das alles ein abgekartetes Spiel zwischen Prigoschin und Putin wäre – das erklärt aber nicht die sehr unsouveräne, fast panikartige Reaktion von Putin und der tatsächlich stattfindenden Scharmützel zwischen Wagner und russischer Armee, Nationalgarde, und was da sonst noch am Start ist. Wenn man sich anschaut, wie schnell die Wagner-Truppen quasi ohne Widerstand gen Moskau vorgestoßen sind, fragt man sich schon, ob Putin wirklich daran interessiert sein kann, zu illustrieren, wie schutzlos sein Land im Moment durch die Konzentration der kämpfenden Truppe in der Ukraine wirklich ist. Vor allem, weil er ja nicht müde wird zu behaupten, dass die NATO quasi demnächst in Russland einmarschieren wird. Eine Verfeinerung der alles-abgesprochen-Theorie ist, dass Putin unauffällig eine schlagkräftige Truppe nach Weißrussland verlegen wollte, um dort die Front im Norden wiederzueröffnen. Diese Hypothese erscheint mir eher abwegig, denn 30000 Mann sind jetzt von der Schlagkraft her eher übersichtlich, zumal sie ja schwere gepanzerte Waffensysteme brauchen würden – und deren Transport ist kaum geheimzuhalten und nach jetzigem Erkenntnisstand (noch?) nicht erfolgt.

Die ganze Aktion hat die russischen Truppen in der Ukraine ja auch durchaus geschwächt, die Wagner-Söldner sind ja durchaus kampferfahren und wären vor Ort sicherlich wertvoll bei Verteidigung und Gegenangriff gewesen. Es könnte aber sein, dass die russische Strategie tatsächlich schon – wie Prigoschin die letzten Monate ja nicht müde wurde zu behaupten – eine Art Aushungern der Wagner-Truppe durch schleppende Material- und Munitionsversorgung war mit dem Ziel, die Wagner-Kämpfer langfristig in die russische Armee zu überführen oder alternativ aus dem Spiel zu nehmen, ironischerweise vielleicht sogar wegen befürchteter Putschgefahr. Wenn Prigoschin das so gesehen hat, wäre es gut denkbar und plausibel, dass er den – so er denn stattgefunden hat, die russische Armeeführung bestreitet das ja vehement – Angriff russischer Einheiten auf ein Wagner-Camp zum Anlass für einen Befreiungsschlag genommen hat. Lieber mit einem Knall gehen und noch ein paar Feinde mitnehmen, als dem langsamen Siechtum beizuwohnen. Dass er die Wagner-Truppen nicht bis zum bitteren Ende gegen russische Einheiten kämpfen lässt, passt auch gut zu Prigoschins vermutetem Mindset: kein Blut von Russen vergießen. Und vielleicht waren seine Erzfeinde Schoigu und Gerassimov wirklich das Ziel dieser Aktion, und nachdem deren Eliminierung kurzfristig nicht erreichbar war, sollte der Marsch auf Moskau eben nicht im großen Bürgerkrieg enden – auch das passt zu Prigoschin und seinen kolportierten Ansichten.

Interessant ist auf jeden Fall, dass jetzt plötzlich wieder Lukaschenko im Spiel auftaucht, der ja eigentlich seit seiner Ablehnung einer aktiveren Rolle Weißrusslands im Krieg gegen die Ukraine mehr oder weniger unbeteiligt an der Seitenlinie steht. Seine Vermittlerrolle kam für mich doch eher überraschend, aber aus Putins Sicht vermutlich willkommen – sehr lange hat Putin ja die Eskapaden von Prigoschin gedeckt und die Wagner-Truppen auch dringend gebraucht, sei es in Syrien, Mali oder in der Ukraine. Wagner konnte dahin gehen, wo die russische Armee nicht eingreifen konnte oder sollte. Vermutlich hat deshalb Putin seinen großen Worten bezüglich der Behandlung der Verräter da keine Taten folgen lassen, weil er nach der ersten Panik erkannt hat, dass ein Deal mit Prigoschin auf lange Sicht die bessere Idee ist.

Ist Putin nun angeschlagen? Götterdämmerung in Russland? Bröckelt der Koloss auf den tönernen Füßen? Hilft all das der Ukraine? Man weiß es nicht. Es bleibt viel Raum für Phantasie. Für mich ist besonders interessant zu beobachten, ob Prigoschin weiterhin die Öffentlichkeit mit seiner doch recht drastischen Kritik vor allem an der russischen Armeeführung suchen wird, und wie lange er in Weißrussland überlebt – Profi-Tipp: am besten immer im Erdgeschoss aufhalten. Und was mit den ganzen Wagner-Söldnern nun eigentlich passiert. Zumal Wagner ja auch noch andere Geschäftsbereiche hat als “wir führen Krieg für Wladimir”, aber letztlich zu großen Teilen von Staatsaufträgen gelebt hat. Da wird sich aber sicher ein Oligarch von Putins Gnaden finden, der sich da großzügig opfert um den Geschäftsbetrieb weiterzuführen.

Putin erhöht den Einsatz

Wladimir Putin hat gestern – je nachdem, welcher Quelle man glaubt – die “Teilmobilmachung” oder die “Mobilmachung” verkündet. Damit wird höchstoffiziell die “militärische Spezialoperation” zum ausgewachsenen Krieg, die Realität ist also auch in die offiziellen Verlautbarungen der russischen Regierung eingezogen. Auch die eher unspezifische Atomdrohung gegen alle, die Russland vernichten wollen, wurde erneuert, inklusive einem merkwürdigen Nachsatz “ich bluffe nicht”. Und es werden Referenden zeitnah durchgeführt in diversen Gebieten, teils welche die schon seit 2014 umkämpft sind, teils in seit 2022 eroberten Gebieten. Warum die Russen sich die Mühe machen wollen, hier nach dem Krim-Annexions-Playbook vorzugehen, erschließt sich mir nicht – völkerrechtlich hat es keine Relevanz, und zuhause hat man ja bisher behauptet, dass die Ukraine als Staat eh nicht existiert und das im Grunde alles schon immer zu Russland gehört. Und als Argumentationshilfe für die Putin-Trolle taugt es auch nicht wirklich, dazu ist die Story nun wirklich zu dünn. Mitten im Krieg in einem besetzten Gebiet ganz offensichtlich unfreie Wahlen abzuhalten – wen soll das denn überzeugen?

Mehrere Fragen treiben mich rund um diese Teilmobilmachung um. Eine ist: wird es wirklich etwas ändern, zusätzliche Truppen im Umfang von vielleicht 300000 Mann in die Schlacht zu werfen, oder leidet man nicht eher unter dem Mangel an hochwertigem Material? Zusätzliche Soldaten werden wohl kaum dabei helfen, die Luftüberlegenheit zu erringen. Oder das Aufklärungsdefizit in den Griff zu kriegen. Zumal es sich ja letztlich um Reservisten handelt, d.h. gemessen an den Berufssoldaten, die im Moment kämpfen, jetzt eher nicht die Elite darstellt. Wobei es natürlich die Möglichkeit gibt, die jetzt einberufenen Reservisten auf die Grenztruppen in den ruhigen Lagen – Kasachstan, Finnland, Norwegen, Baltikum, Georgien, Polen, China – zu verteilen und erfahrenere Kräfte von dort stattdessen abzuziehen und in die Ukraine zu verfrachten. Was aber natürlich das Gefahrenpotenzial dort erhöht – Russland läuft Gefahr, da in ein paar Grenzkonflikte und “alte Rechnungen” zu laufen, man denke an die Aserbaidschan/Armenien-Geschichte oder Georgien. Und logistisch gesehen ist ein solcher Truppentausch natürlich auch nicht ganz einfach und erfordert Zeit. Die Wirkung der neuen Personalreserve wird sich also vermutlich erst im nächsten Frühjahr bemerkbar machen können.

Die politische Frage, was denn die Verkündung der Teilmobilmachung bewirkt – man hatte ja Gründe, bisher von einer “militärischen Spezialoperation” zu reden, und diese Gründe können ja nur innenpolitischer Natur sein – ist auch kaum vorhersagbar. Wird das russische Volk jetzt misstrauischer werden? Kaum vorstellbar, die letzten 8 Jahre des Konflikts waren ja schon eine wilde Achterbahnfahrt der Kreml-Propaganda, da kann ich mir nicht vorstellen, dass das jetzt der ausschlaggebende Tropfen sein soll, der das berühmte Fass zum Überlaufen bringt.

Wobei eine Mobilmachung unter Rückgriff auf Zivilisten natürlich schon Wirkung entfaltet. Der Krieg landet viel direkter bei der Bevölkerung. Es heißt ja, dass der Abzug aus Afghanistan damals innenpolitisch aufgrund der Opferzahlen unter den eigenen Soldaten fast schon als zwangsläufig angesehen wurde, und die politische Legende rund um die Notwendigkeit des Afghanistan-Krieges war ja von ähnlich unterirdischer Qualität was die Propaganda betrifft. Aber ich sehe einen gewichtigeren Faktor, der allerdings auch eher mittelfristig zur Wirkung kommt: diese 300000 Mann sind ja normalerweise im besten Alter, um einer produktiven Berufstätigkeit nachzugehen. Der Verlust einer solchen Anzahl von Arbeitskräften wird an der russischen Wirtschaft nicht spurlos vorübergehen. Insbesondere, wenn man ja gleichzeitig ganz dringend ein paar hochwertige Rüstungsgüter in größerer Menge unter einem unangenehmen Sanktionsregime produzieren sollte.

Welche Reaktion des Westens wird diese Eskalation durch Putin nach sich ziehen? Man könnte meinen, dass nun in die Kampf- und Schützenpanzerdiskussion etwas Bewegung kommen könnte. Die Idee, über Ringtausch altes Sowjetmaterial dem “heißen Recycling” zuzuführen, ist bekanntlich ausgereizt, und irgendwann müssen (oder “müssten”, quasi der Scholz’sche Konjunktiv) den Worten ja Taten folgen. Eine Verschärfung der Wirtschaftssanktionen wäre auch möglich, nachdem Russland inzwischen ja die Gaslieferungen weitgehend eingestellt hat, kann da nichts schlimmeres mehr passieren, und die derzeitigen Schlupflöcher zum Unterlaufen der Sanktionen sind ja riesig. Verschiedene Seiten haben vor allem dem US-Präsidenten ja geraten, ein paar rote Linien zu ziehen und seinerseits ganz vage auf das atomare Potenzial der NATO hinzuweisen. Ich halte das für eine schlechte Idee. Nicht nur, weil ich mich an das rote-Linien-Desaster des Duos Obama/Clinton noch gut erinnere. Denn man muss gar nicht konkret werden, sollen sich die Kreml-Strategen doch den Kopf darüber zerbrechen, welche mögliche Reaktion auf welche weitere Eskalation erfolgt. Dass die NATO im Angesicht der ultimativen Eskalation entsprechend reagieren wird, ist dem Kreml ganz sicher klar, insbesondere weil sie noch an ihrer Fehleinschätzung vom Februar bezüglich der Reaktion des Westens zu knabbern haben. Das mahnt zur Vorsicht.

Letztlich muss man aber feststellen, dass die Gesamtsituation noch etwas unangenehmer geworden ist. Denn jetzt sollte auch dem Letzten klar geworden sein, dass Putin und seine Freunde im Kreml vor kaum etwas zurückschrecken werden. Und “Irre mit Atomwaffen” ist halt ein unangenehmes Setting. Insofern ist die beste Hoffnung vermutlich sowas wie das Gorbatschow-Szenario – Putin segnet das Zeitliche, sein Nachfolger ist nominell aus demselben Kader, besinnt sich dann aber – vor allem aufgrund der normativen Macht des Faktischen – eines Besseren. Denn ein Untergangsszenario mit Putin am Ruder mag ich mir nicht vorstellen. Und das Ende des Russisch-Japanischen Kriegs 1905 will mir nicht so recht als Blaupause taugen.

Beinahe hätte ich übrigens als Überschrift für diesen Artikel “Putin ruft zum Volkssturm auf” gewählt, aber ich glaube diese Parallele ist nicht ganz so parallel wie manche nicht müde werden zu behaupten.

Zeitenwende und Zustand der Bundeswehr

Es ist nun schon ein Weilchen her, als Olaf Scholz im Bundestag die “Zeitenwende” inklusive “Sondervermögen” (Neusprech für: Schattenhaushalt) für die Bundeswehr angekündigt hat. Es war am 27. Februar diesen Jahres, die Älteren werden sich erinnern.

Nun hat man in Deutschland vor allem seit Ende des Kalten Krieges, aber eigentlich schon seit Ende der 70er/Anfang der 80er die Bundeswehr sowohl personell als auch materiell eher heruntergefahren. Eventuelle Etaterhöhungen sind nie in der kämpfenden Truppe gelandet, sondern stets in der Bürokratie, in komplizierten Ausschreibungsverfahren, und viel zu teure Rüstungsvorhaben und Prestigeprojekte ohne militärischen Wert. Und komischerweise ging nach Verkündung des 100-Milliarden-Euro-Honigtopfes auch die Diskussion direkt los mit diversen Rüstungsvorhaben, die zehn bis vielleicht sogar vierzig Jahre – man denke an das FCAS-Projekt in Partnerschaft mit Frankreich, geplante erste Indienststellung 2040, real also frühestens 2050 – bis zur Vollendung brauchen.

Nun ist Haushaltspolitik ja immer eine komplizierte und ggf. langwierige Sache. Aber es gibt auch für Beschaffung bei der Bundeswehr einen “Fast-Track” für kleinere Vorhaben, in Fachkreisen “25Mio-Vorlage” genannt. Damit kann das BAAINBw – eine Monsterbehörde, ansässig in Koblenz, die hauptverantwortlich für die Materialbeschaffungsmaßnahmen von der Planung bis zur Durchführung entlang der typischen Ergebnisse “zu spät, zu teuer, und weitgehend nutzlos” ist – kleinere Rüstungsvorhaben ohne langwierigen politischen Genehmigungsprozess durchführen.

Man weiß seit geraumer Zeit, dass die Bundeswehr insbesondere an zu viel nicht einsatzbereitem Material (man informiere sich mal über “dynamisches Verfügbarkeitsmanagement” und staune über den Einfallsreichtum, der bei solchen Neusprech-Wortkreationen möglich ist) und sehr dünnem Munitionsbestand (man spricht von “ausreichend für 2 Tage Krieg”, was wiederum den Kritikern seit Tag 1 recht gibt, dass die Bundeswehr nur dazu taugt, den Feind so lange aufzuhalten, bis das richtige Militär eingreift) leidet. In der Ausbildung der Soldaten ist Übungsmunition und Übungsschießen mit scharfer Munition eher selten, und das führt natürlich zu fatalen Mängeln. Untrainierte Soldaten sind im Ernstfall Kanonenfutter. Insbesondere in einer Demokratie ist dieser Zustand unerträglich.

Nun hat der Krieg in der Ukraine ja verschiedene Erkenntnisse gebracht. Z.B., dass insbesondere nicht ganz so moderne Kampfpanzer für moderne Panzerabwehrwaffen eher so Ziele wie beim Tontaubenschießen sind. Oder, dass reichweitenstarke und zielgenaue Artillerie ein Schlüssel zum Erfolg ist. Oder, dass preiswerte kleine Drohnen sehr gut zu Aufklärungszwecken verwendet werden können. Oder, dass gesicherte Kommunikationsstrecken wichtig sind. Oder, dass es bei so manchem Material wie Munition von Vorteil ist, wenn man größere Mengen vorrätig hat, weil im Ernstfall Nachbeschaffung eher schwierig und/oder zeitaufwändig ist.

Unnötig zu sagen, dass die Bundeswehr in allen Bereichen katastrophal schlecht auf den Verteidigungsfall vorbereitet ist – besonderes Highlight ist die Geschichte mit der noch analogen Funktechnik, die nicht mal eine Kommunikation mit den NATO-Partnern im Gefecht ermöglicht. Und dieser katastrophale Zustand ist seit mindestens drei Jahrzehnten jedem Verantwortlichen klar und bewusst, und die politische Strategie scheint zu sein, dass man darauf hofft, dass es im Ernstfall schon die NATO-Partner richten werden. Es war Trumps Verdienst, regelmäßig in Erinnerung zu rufen, dass die NATO ein Verteidigungsbündnis mit Bringschuld aller Partner ist, und nicht ein US-Schutzschirm für den Notfall. Lehren aus Trumps Erinnerungen hat man jedoch keine gezogen. Aber dazu war ja nicht mal ein heißer Konflikt vor der Haustür wie der Ukraine-Krieg – tödlich und mitten in Europa – in der Lage. Man wurschtelt rum, von einem Fettnapf in die nächste Verlegenheit stolpernd. Und plant die nächste Goldrandlösung – besonders teuer durch besonders sinnlose Detailanforderungen und niedriger Stückzahlen.

Wir werden von Totalversagern regiert. Und das bezieht sich keinesfalls nur auf die jetzige Regierung und die jetzige Verteidigungsministerin. In diesem Falle kann man nicht mal sagen, dass der Niedergang mit Ursula von der Leyen als Verteidigungsministerin begonnen hat – nein, die Misere dauert schon sehr viel länger, und der Fisch stinkt vom Kopf her. Schmidt, Kohl, Schröder, Merkel, und ihre jeweilige Ministerriege (oder muss man jetzt “Ministrierende” sagen?). Es ist immer schlimmer geworden über die Jahrzehnte. Unsere Flinten-Uschi hat den Niedergang höchstens noch etwas beschleunigt.

Ich glaube an die Zeitenwende, sobald eindeutig sichtbar wird, dass man aktiv die Ausrüstungsmängel der Bundeswehr behebt. Durch tatsächliche, nicht durch geplante Beschaffungen. Prognostizierter Glaubensbeginn: kurz nach dem Sankt-Nimmerleinstag.

Ukraine-Update

Fast vier Monate sind vergangen seit meinem letzten Post zur (vermuteten) Lage – und ich muss meine Vorhersagequalität zum Thema “was passiert am 9. Mai” im Nachhinein loben, wenn es schon kein anderer tut. Punktgenau getroffen. Die aktuelle Situation im Ukraine-Krieg liegt wie immer im Nebel des Krieges, die Einschätzungen diverser Experten und denen die sich dafür halten oder dafür gehalten werden gehen weiterhin weit auseinander, aber so ein paar Schlussfolgerungen kann man aus dem bisherigen Verlauf schon ziehen, und einen vorsichtigen Ausblick wagen.

Im Moment scheint es so, dass die Russen ein Nachschubproblem haben. Aufgrund des Festhaltens am Narrativ “militärische Spezialoperation” bleibt der Weg in die Mobilmachung verwehrt, und die Materialsituation scheint auch nicht gerade so üppig zu sein. Klar, mit der wenig zielgenauen Standard-Artilleriemunition können die Russen vermutlich ein paar Jahre durchschießen, und ausreichend altertümliche Panzer werden auch noch in den Depots stehen, und Freifallbomben zum Abwurf aus großer Höhe für das klassische Flächenbombardement dürften auch noch reichlich verfügbar sein. Aber beim High-Tech – sofern es das je in ausreichendem Maße gab – wie bei zielgenauen Marschflugkörpern oder bewaffneten Drohnen oder modernen Kampfjets oder gar den eher hypothetisch erscheinenden Hyperschallwaffen sieht es doch eher düster aus. Und das ist auch die Hauptwirkung der westlichen Sanktionen: hier tun sich die Russen sehr schwer, die notwendigen Komponenten für eine ausreichende Produktionsmenge zu beschaffen. Klar gibt es den Schwarzmarkt und dunkle Beschaffungskanäle, aber das erzeugt Reibungsverluste und höhere Preise und bindet Personal in der Beschaffung. Der kürzlich bekannt gewordene Beschaffungsversuch iranischer Drohnen signalisiert jedenfalls schon ziemliche Verzweiflung.

Zusätzlich haben die Russen es auch nach vielen Monaten nicht geschafft, die Lufthoheit zu erringen. Der Einsatz von Kampfhubschraubern oder Erdkampfflugzeugen findet praktisch nicht statt, die Reste der ukrainischen Luftwaffe können weiterhin operieren. Dasselbe gilt für die Schwarzmeerflotte, die sich weit weg von der Küste halten muss und so quasi wirkungslos ist bis auf den Abschuss von einzelnen Raketen oder Marschflugkörpern aus großer Distanz. Aufgrund reichlich vorhandener ukrainischer Panzerabwehr bleibt den Russen im Prinzip nur die althergebrachte “Artillerie-Feuerwalze”-Doktrin, und das reicht wenn überhaupt punktuell mal für kleine Raumgewinne. Die Vorhersagen, dass die Russen nach dem schwierigen Gelände in Richtung Kiew es im Süden und Osten der Ukraine leichter haben werden, haben sich auch nicht bewahrheitet. Die Ukrainer waren recht erfolgreich bei ihrer “bend-but-don’t-break-defense”-Taktik, um mal einen Vergleich mit dem American Football zu ziehen.

M.E. entscheidenden Anteil an der derzeitigen für Russland sehr schwierigen Situation sind die gelieferten westlichen Waffensysteme vom Schlage MARS, HIMARS und PzH2000. Weitreichende und trotzdem treffgenaue Artillerie bedeutet, dass man eben seine Nachschub-Depots nicht irgendwohin im Hinterland aber in Frontnähe bauen kann, sondern ausreichend große Distanz zur Frontlinie braucht für eine ausreichende Sicherheit, dass so ein Depot nicht zu einem ex-Depot wird. Und das wiederum ist ein Logistikalbtraum, der sich stark negativ auf die Fähigkeiten der russischen Armee zur flexiblen Kriegsführung auswirkt. Die jetzige Sachlage riecht jedenfalls ziemlich nach “Patt”.

In Summe würde ich deshalb die nächsten Monate darauf setzen, dass die Front in allen Himmelsrichtungen mehr oder weniger erstarrt, und die Ukraine einige empfindliche Nadelstiche setzen wird. Für eine großangelegte Offensive fehlt beiden Mensch und Material. Ein Eingreifen von Weißrussland an der ukrainischen Nordgrenze halte ich für extrem unwahrscheinlich, die werden alles versuchen diesem Konflikt jenseits von “liebe Russen, verschießt euer Zeug gerne von unserem Territorium aus, und ihr dürft hier auch gerne eure Nachschublinien betreiben” fernzubleiben.

Und wie wird der Ukraine-Krieg nun enden? Ich habe keine Ahnung, das hängt von vielen Faktoren ab. Bleibt die Unterstützung durch Waffen und das Embargo durch den Westen bestehen, räume ich der Ukraine aber gute Chancen ein. Wann der Krieg aber endet, das liegt allein in der Hand von Putin – oder ggf. seines Nachfolgers. Eine mögliche Parallele zur Situation Mitte der 80er mit dem Wechsel von Breschnew-Andropow-Tschernenko zum Nachfolger Gorbatschow, der in einem Akt der Verzweiflung den Kalten Krieg beenden musste, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Rückzug oder Kapitulation ist für die Ukraine keine vernünftige Option. Für Russland hingegen wäre eine Beendigung der “militärischen Spezialoperation” durchaus ein plausibles Exit-Szenario, man muss nur dem russischen Volk irgendeine Geschichte auftischen. Realistischer als “die Ukraine gehörte schon immer zu Russland, und jetzt müssen wir dort mal entnazifizieren” wird diese Geschichte in jedem Falle sein.

Jedenfalls sehe ich die größte Gefahr für die derzeitigen Machthaber im Kreml gar nicht direkt durch mögliche Erfolge der Ukraine, sondern durch einen möglichen Lawineneffekt bei Unabhängigkeitsbestrebungen in anderen grenznahen Gebieten. Das kann dann sehr schnell außer Kontrolle geraten, und das russische Militär ist gerade nicht in einer Verfassung, um an vielen Fronten zu kämpfen. Geschweige denn zu siegen. Wenn ein Imperium zerfällt – insbesondere, wenn es auf solch tönernen Füßen ruht wie das russische – dann wittern alle Unterdrückten Morgenluft. Eine gefährliche Situation.

Anmerkungen zur Energiekrise

Seit Russland seine militärische Spezialoperation – in faktentreuen Kreisen üblicherweise “Krieg” genannt – in der Ukraine durchführt, ist diversen Bevölkerungsgruppen schmerzlich bewusst geworden, wie so die Energieabhängigkeitsverhältnisse in Deutschland sind. Selbst einige Kinder der ersten und zweiten Ölkrise schienen gefühlt überrascht zu sein.

Nun gibt es zu unserer Abhängigkeit vom russischen Gas einiges zu sagen und vor allem zu differenzieren. Ich versuche mal eine grobe Einteilung in “Strom”, “Raumwärme” und “Industriebedarf”.

Dass unsere Stromversorgung in den letzten 40 Jahren deutlich gaslastiger wurde, hat zum einen mit dem CO2-Preis zu tun als auch mit dem Ausstieg aus der Kernenergie und dem Ausbau von dargebotsabhängigen Energieformen wie Wind und Sonne zur Stromerzeugung, von manchen liebevoll “Zappelstrom” genannt. Im englischen Sprachgebrauch hat sich als Verballhornung der “Renewables” inzwischen “Unreliables” etabliert. Dieser Teil der Erhöhung der Gasabhängigkeit wäre also problemlos vermeidbar gewesen. Zur Erinnerung: man war Ende der 80er, als das neueste deutsche KKW in Neckarwestheim ans Netz ging, bei etwa 40% Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung, zusammen mit den 5% aus Wasserkraft, war also fast die Hälfte der Erzeugung beinahe CO2-frei – auf ziemlich diesem Niveau werden wir ab 1.1.2023 nach Abschaltung der letzten 3 KKWs wieder sein. Hunderte Milliarden aus Klimaschutzsicht einfach verbrannt, um eine zuverlässige Art der Stromerzeugung durch eine unzuverlässige Art der Stromerzeugung, die durch Gas- und Kohlekraftwerke netzfähig gemacht werden muss, ersetzt. Großes Kino.

Bei der Raumwärme (und letztlich auch bei der Bereitstellung des Warmwasserbedarfs bei Haushalten und Kleinverbrauchern) sieht da Sache anders aus. Denn es gab lange Zeit (und eigentlich jetzt auch noch, in vielen Fällen) sehr sehr gute Gründe für Gas als Primärenergieträger. Erstens ist Gas ein sehr unproblematischer Brennstoff, der ohne großen Aufwand sauber verbrennt. Zweitens sind Gasthermen sehr zuverlässig und platzsparend und auch ressourcensparend, wenn man es beispielsweise mal mit einer Fernwärmeversorgung vergleicht. Drittens war Gas lange Zeit preislich deutlich attraktiver als Wärmepumpen, und ist es teilweise – vor allem im nicht besonders gut gedämmten Altbau bis ungefähr Ende der 90er – auch heute noch. Hohe Vorlauftemperaturen sind schlicht kein Problem und töten die Effizienz nicht gleich final wie bei Hochtemperaturwärmepumpen. Viertens ist eine Gastherme im Betrieb deutlich wartungsärmer und ressourcensparender als eine doch recht komplexe Wärmepumpe, oder ein Öl- oder Pelletbrenner die mit einem vergleichsweise “dreckigen” Brennstoff klarkommen müssen und deutlich mehr Pflege brauchen. Aber: Raumwärme hätte man auch “französisch” bereitstellen können, mit Kernenergie für Nachtspeicheröfen und/oder Heizstäbe und/oder Durchlauferhitzer. Wenn man das richtig macht, kann man damit sogar Strom im weitesten Sinne “speichern” und damit über die Verbrauchsseite vorhandene Erzeugungsüberschüsse zu beliebigen Zeitpunkten zu nutzen. Zu einem nicht unerheblichen Teil ist allerdings die jetzige breite Gasnutzung für Zwecke der Raumwärme- und Warmwasser-Bereitstellung in Privathaushalten auf politische Fehlanreize wie Subventionen für den Umstieg von Heizöl zu Gas sowie Förderung von Gas-Brennwertheizungen in Neubauten zurückzuführen.

Beim Industriebedarf sind nochmal andere Überlegungen anzustellen. Oftmals ist hier Gas kaum substituierbar, außer durch sehr viel teurere Varianten wie “regenerativ erzeugter Wasserstoff”. Insbesondere im Bereich Prozesswärme, also höherer Temperaturbereiche, ist Gas neben Kohle nahezu unverzichtbar. Aber letztlich ist die jetzige Gasnutzung der Industrie ein Ergebnis einer langjährigen Optimierung aufgrund gegebener hauptsächlich politischer Rahmenbedingungen. Und viele der industriellen Großverbraucher sind ja eh schon ins Ausland geflüchtet.

Wie kommt man kurzfristig aus der hiesigen Gasabhängigkeit raus? In der Gesamtsicht: gar nicht. Man kann aber die Abhängigkeit von Russland recht einfach reduzieren, indem man Gas wo möglich substituiert (Strom: Biogas, Kernenergie, Kohle) und die Lieferanten diversifiziert. Langfristig könnte man natürlich die Kernenergie wieder in angemessenem Umfang ausbauen – Kernenergie taugt für so ziemlich alle Anwendungen, bis hin zu Prozesswärmebereitstellung und Kraftstofferzeugung, und das bei niedrigstmöglicher Umweltbelastung, egal ob man entstehendes CO2 oder Flächenbedarf oder Stoffströme betrachtet. Und weil der “Brennstoff” namens Uran (oder für die Verwegenen: Thorium) so unglaublich hohe Energiedichte hat und gleichzeitig unglaublich preiswert ist, kann man sich mal einen schönen Mehrjahresvorrat anlegen, für den Fall, dass einer wie Putin mal wieder den “Irren Iwan” mimt (oder tatsächlich irre ist, da tagt die Jury noch). Eine andere Möglichkeit wäre, endlich das Frackingverbot hierzulande zu begraben – selbst das Umweltbundesamt hat in seiner letzten Evaluierung ja festgestellt, dass das Risiko für Umweltbeeinträchtigungen durch Fracking bei heutiger Fördertechnik extrem niedrig ist – und wer würde dem UBA (zumindest in diesem Einzelfall) schon widersprechen wollen. Gut, Habeck und andere Intelligenzabstinenzler erzählen dem Publikum immer noch jede Fracking-Horrorgeschichte aus der Steinzeit. Aber nur bei Gasförderung, nicht bei Geothermie, so viel Inkonsistenz muss schon sein, wenn man faktenunabhängiger Ideologe sein will. Wo kämen wir da sonst hin.

Möglicherweise muss man bei Gasknappheit die Stromerzeugung aus Gas ganz einstellen und auf der Verbrauchsseite kreativ werden. Ein Vorschlag meinerseits: Ladestationen für Elektroautos laden nur dann, wenn genügend regenerativ erzeugter Strom im Netz ist. Jede kWh hilft!

Russen-Rätsel teilweise gelöst: NATO-Manöver

Über Jahrzehnte war es für mich ein Rätsel: die Panik der Russen (oder früher der Sowjets), wenn mal wieder irgendwo auf der Welt – vor allem in der Nähe russischer Einflussgebiete – Militärmanöver stattfanden. Berühmt ist ja die Geschichte rund um das NATO-Manöver “Able Archer” (wobei um den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte die Historiker durchaus streiten), als die Sowjets die Vorbereitung eines Angriffskriegs durch die NATO vermuteten und nur durch Spione in westlichen Institutionen davon überzeugt werden konnten, dass es sich wirklich nur um ein Manöver handelt und nicht um die Vorbereitung des dritten Weltkriegs.

Die Invasion der Ukraine hat uns nun gelehrt: es gehört zur russischen Standard-Strategie, größere Truppenaufmärsche als Manöver zu tarnen, um dann loszuschlagen. Klar, dass man so eine Strategie dann auch dem Gegner zutraut. Ein weiteres Rätsel gelöst.

Politische Prioritäten der Grünen

Zeiten wie diese erlauben es oftmals, aufgrund neu entstandenen erheblichen Drucks der Realität den ganzen Blütenträumen der politischen Parteien aus den Schönwetterreden der Vergangenheit mal den Spiegel vorzuhalten. Was war nur dummes Geschwätz, und was ist der politische Kern einer Partei?

In Bezug auf die Grünen kann ich da erste Erfolge vermelden. Das Thema “russisches Gas” hat eine wahre Kaskade an Aktionen und Aussagen ausgelöst, die es mir erlaubt, die Top 10 der politischen Kernziele der Grünen aufzustellen.

  1. Ausstieg aus der Kernenergie
  2. Ausstieg aus der Kernenergie
  3. Ausstieg aus der Kernenergie
  4. Ausstieg aus der Kernenergie
  5. Ausstieg aus der Kernenergie
  6. Ausstieg aus der Kernenergie
  7. Ausstieg aus der Kernenergie
  8. Ausstieg aus der Kernenergie
  9. Ausstieg aus der Kernenergie
  10. Umweltschutz, Naturschutz, Klimaschutz, erneuerbare Energien, Energieautarkie, Pazifismus, Frieden, Völkerverständigung

Man muss eben Prioritäten setzen. Ideologie übertrumpft so bodenständige, typisch bürgerliche Kernelemente wie Logik, Sachkenntnis oder gesunder Menschenverstand.