Landtagswahl Saarland 2022

Landtagswahlen im Saarland gehören ja zum Unwichtigsten, was die Republik politisch zu bieten hat, aber auch zum Unterhaltsamsten. Dem Wahlvolk an der Saar scheint der Schalk im Nacken zu sitzen – wie sonst wäre es erklärbar, dass dort schon Lafontaine und Maas und Kramp-Karrenbauer das Ministerpräsidentenamt bekleidet haben? Gut, vielleicht ist auch die These der Wahl des kleinsten Übels zutreffend, die jeweiligen Gegenkandidaten sind mir aber Gott sei Dank entfallen und so muss ich den Beleg dieser These schuldig bleiben.

Jedenfalls war der Ausgang 2022 auch wieder ein Knaller. Amtsbonus des Ministerpräsidenten? Nicht erkennbar. Besondere Fähigkeiten der SPD-Kandidatin? Nicht erkennbar. Auswirkungen der in Umfragen angedeuteten Bundestrends? Nicht erkennbar. Relevanz für die Bundespolitik? Nicht erkennbar. Wobei, irgendein Gewicht im Bundesrat wird sich schon wieder verschoben haben, aber seit etwa 2010 herrscht in der Bundesrepublik ja sowieso eine Art Allparteien-Koalition-ohne-AfD, und damit ist der Bundesrat ja nun eher irrelevant geworden. Man streitet bei relevanten Themen ja gar nicht mehr um „für und wider“, sondern nur um „mehr-noch mehr-wieviel davon“.

Sehr amüsant: das sehr knappe Scheitern der Grünen an der 5%-Hürde, es fehlen rund 20 Stimmen. Aber mal sehen, was das endgültige amtliche Endergebnis dann ergibt, da ist man ja vor Überraschungen nie gefeit.

Nicht mehr ganz so amüsant, weil nun doch schon oft dagewesen: das Versagen der Demoskopen. Bei Vorwahlumfragen gibt es dafür ja hinreichend Gründe, aber dass Infratest Dimap gleich zwei Parteien in der 18Uhr-Prognose im Parlament gesehen hat, die dann letztlich gescheitert sind – peinlich. Die Demoskopie ist halt keine Wissenschaft, sondern Kaffeesatzleserei unter Würfeleinsatz, und je kleiner das Wahlvolk, desto unsicherer das Ergebnis. Klassische Modellierung nach dem „garbage-in-garbage-out“-Prinzip, und darin den Klimamodellen nicht unähnlich. Nur mit deutlich niedrigerem Schadenspotenzial.

Noch ein paar Beobachtungen am Rande: Die Zugewinne der SPD (rund 40000 Stimmen) kompensieren nicht mal den Verlust der SED (rund 55000 Stimmen), wobei auch die schwächere Wahlbeteiligung (nur für den Spaß geht man wohl nicht mal im Saarland wählen) berücksichtigt werden muss beim Vergleich der absoluten Stimmenzahlen. Einige Kleinparteien haben sich auf ungefähr die Hälfte der Stimmen der SED hochgearbeitet – „Die PARTEI“, die Freien Wähler (mit mehr als einer Verdreifachung der Stimmen quasi heimlicher Wahlsieger), „die Basis“, „bunt.saar“…klangvolle Namen im Parteienspektrum. Die Tierschutzpartei hat sogar mit über 10000 Stimmen die SED fast eingeholt. Die Piratenpartei festigt mit Platz 14 ihren Nimbus als unter-ferner-liefen-Partei.

Und noch eine Detailbeobachtung zum Zustand des Qualitätsjournalismus: die taz, linkes Kampfblatt aus Tradition, stellt in den lustigen Balkendiagrammen die AfD mit der braunen Farbe dar. Konsequenterweise müssten die Grünen dann in dunkelrot eingefärbt werden, aber Logik und Stringenz waren im linken Lager ja noch nie hoch angesehen.

Unsortiertes zum Ukraine-Krieg

Seit nunmehr 3 Wochen läuft das lange Zeit Undenkbare vor unser aller Augen ab: ein Angriffskrieg mitten in Europa. Russland hat die Ukraine angegriffen, eine Invasion in vorher als sehr unwahrscheinlich angesehener Breite. Ich will ein paar zufällige Punkte herausgreifen, die mich an diesem Krieg verwundern.

Viele Menschen erklären mit seit 20 Jahren, was für ein Meisterstratege Putin sei. Dass er wie die russischen Schachgroßmeister alle Züge im Voraus durchdenkt, seine Optionen abwägt, kühl und rational entscheidet. Schon vor 2014 – Krim-Annexion und Unterstützung (oder Initiierung?) der Separatisten in der Ostukraine – konnte keiner erklären, wie ein derart kluger und vorausschauender großer Führer einer derart an Bodenschätzen reichen Nation so kläglich versagt bei vergleichsweise trivialen Dingen wie „Wirtschaft“ und „Finanzen“. Man sagt zwar, dass es nun besser sei als in der Jelzin-Ära, aber der hatte auch noch gegen das ganze Erbe der maroden Sowjetunion zu kämpfen. Dagegen hat Putin ja fast ein „bestelltes Haus“ übernommen.

Und wenn man sich jetzt den Ukraine-Krieg anschaut, kommt einem der Gedanke, dass das doch eine schlecht geplante Operation war. Ein Hochrisikoeinsatz ohne wirkliche Aussicht auf Gewinn. Die Idee, dass es für die russische Sicherheit wichtig wäre, einen „Puffer“ namens Ukraine zu haben, ist doch einfach nur lächerlich – seit der Erfindung des Panzers bringen einem 1000km weites, unverteidigtes Land einen Puffer von einem Tag. Seit der Erfindung von Raketen keine 5 Minuten. Die oft vorgetragene Forderung Russlands (oder nur Putins?) nach einer bündnisneutralen Ukraine ist – neben seiner völkerrechtlichen Abwegigkeit – militärisch sinnlos. Und da muss man noch nicht mal drauf abheben, dass bisher in der Geschichte niemand so wahnsinnig war, einen Staat anzugreifen, der Atomwaffen besitzt. Und schon gar keine Großmacht, die auch konventionelle Streitkräfte in erheblicher Zahl vorhält.

„Atomwaffen“ sind ein gutes Stichwort. Die Älteren erinnern sich noch an Anfang der 90er, als sich die Sowjetunion in ihre Bestandteile auflöste und diverse Staaten plötzlich mit einem Haufen Atomwaffen dastanden. Dazu gehörte bekanntlich auch die Ukraine, und die hat (leichtsinnigerweise, wie man in der Rückschau sagen muss) im Rahmen des Budapester Memorandums mit den Garantiemächten USA, UK und Russland seine Atomwaffen abgegeben gegen eine Zusicherung der territorialen Integrität. Schon die Krim-Annexion 2014 war ein eklatanter Verstoß Russlands gegen dieses Abkommen, auch wenn man damals, wenn man Kreml-Versteher war und imperialistische Neigungen eben als russische Natur angesehen hat, zur Not noch eine Scheinargumentation zusammengenagelt bekommen hat, um das schönzureden. Mit dem Angriffskrieg jetzt kann man die Erzählung, Russland würde sich immer an geschlossene Verträge halten, getrost als Märchen endgültig zu den Akten legen.

Sehr irritierend finde ich eine Argumentationslinie, die auf Beschwichtigung setzt. Man dürfe den russischen Bären nicht reizen. Die haben ja schließlich Atomwaffen. Ja, die Gefahr eines Einsatzes von Atomwaffen ist letztlich, sobald sie existieren, nie ganz auszuschließen. Aber entweder ist Russland ein rationaler Akteur, dann werden sie Atomwaffen nur als allerletztes Mittel einsetzen, und zwar wenn sie selbst mit Massenvernichtungswaffen angegriffen werden. Oder Russland ist wahnsinnig genug, auch in anderen Szenarien den Einsatz zu erwägen, aber dann sind wir eh verloren, egal was wir tun. Exemplarisch kann man diese Argumentationslinie gerade bei der Bewertung von Joe Bidens Aussage „Putin ist ein Kriegsverbrecher“ (die ich für unnütz halte, um das auch zu sagen) sehen. Die Engländer sagen „stating the obvious“, aber diplomatisch gilt das wohl als „die Brücken abreißen“, was auch die zumindest verbal heftige Gegenattacke aus dem Kreml vermuten lässt. Aber da frage ich: welche Brücken? Welche diplomatische Basis gibt es noch, um mit Russland zu verhandeln? Welche diplomatische Brücke war denn überhaupt noch intakt? Man wird nicht darum herumkommen, zur Beendigung des Konflikts ganz neue Brücken zu bauen. Wer diese baut, wann, warum, unter welchen Verrenkungen – das gehört für mich zu diesen großen unbeantworteten Fragen dieses Kriegs.

Militärisch stehe ich als Laie bei der Betrachtung des Krieges auch eher verwirrt da. Eine Strategie der Russen ist nicht erkennbar. Und auch auf taktischer Ebene wirkt das alles sehr konfus. Vielleicht habe ich den ganz großen Plan dahinter nur nicht kapiert – ich verstehe ja noch, dass man initial hoffen konnte, durch eine Art „Blitzkrieg“ und schnelle Absetzung der ukrainischen Regierung innerhalb von 2-3 Tagen vielleicht eine Kapitulation zu bekommen, indem man den Gegner einfach überrollt. Aber waren für diese Strategie die aufgefahrenen Kräfte nicht viel zu schwach? Dachte man auf russischer Seite, dass sie als große Befreier des unterdrückten ukrainischen Volkes willkommen geheißen werden? Denn eines scheint mir sonnenklar: auch mit einer nur zu 50% feindlich gesonnenen Bevölkerung ist die dauerhafte Besetzung und Kontrolle eines Landes dieser Größe für eine so ressourcenschwache Nation wie Russland überhaupt nicht zu stemmen. Schon in Afghanistan und in Tschetschenien zeigten sich doch die engen Grenzen der russischen Militärmacht in einem Häuserkampf-Szenario. Wollte man Kiew wie Aleppo oder Grosny massiv bombardieren, oder was war der Plan? Dachte man, eine Marionetten-Regierung könnte das Land zügig stabilisieren, und das nach den Erfahrungen der Maidan-Proteste? Oder wenn man auf einen wirtschaftlichen Eroberungsgewinn aus war – was gibt es in der Ukraine wirklich zu holen, was die Kosten eines solchen Militäreinsatzes auch nur annähernd finanzieren könnte? Ich habe keine Ahnung.

Sehr spannend finde ich die wechselnden Begründungen für den Angriff auf die Ukraine. Nazis im ganzen Land, Entwicklung von Biowaffen, Entwicklung von Atomwaffen, Völkermord in der Ostukraine, unmittelbar bevorstehender Großangriff in der Ostukraine und der Krim, Anstreben der NATO-Mitgliedschaft, Anstreben der EU-Mitgliedschaft…ich sage mal so: früher war die Propaganda aus dem Kreml deutlich stringenter und glaubwürdiger. Falls man bei Kreml-Verlautbarungen überhaupt von „Glaubwürdigkeit“ sprechen kann – aber es gibt ja zumindest bei der Plausibilität einer Lüge oder Halbwahrheit durchaus Abstufungen.

Noch ein Wort zum beliebten Vorwurf „an den Westen“, dass die eigentliche Schuld bei der NATO liegt und Putin gar nicht anders handeln konnte: ja, es stimmt, dass Putin schon seit etwa 20 Jahren darauf besteht, substanzielle Zugeständnisse von Seiten der westlichen Industrienationen und/oder der NATO zu bekommen. Was aber noch keiner erklären konnte: warum sollte man diesen Forderungen nachkommen? Nur weil einer etwas fordert – mit welcher Begründung auch immer – ist diese Forderung nicht automatisch berechtigt. Auch wenn er das 20 Jahre lang tut. Ich persönlich finde, dass man Russland mit dem NATO-Russland-Rat (inklusive NATO-Russland-Grundakte) und der Einbindung in die G7 (was sie zur G8 machte) mehr als genug eingebunden hat. Man hat aus meiner Sicht ein autokratisches Regime, wo Menschenrechtsverletzungen schlimmster Art zur Routine gehört, unnötig hofiert und beschwichtigt und berücksichtigt und betüddelt. Aus meiner Sicht ein Appeasement-Fehler vom Schlage 1938. Dazu passend klingt Putins Versprechen, dass ihm eine neutrale Ukraine ohne NATO-Perspektive ausreicht – zumindest in meinen Ohren nicht unähnlich wie Hitlers „Es ist die letzte territoriale Forderung, die ich in Europa zu stellen habe“ zur Sudentenfrage. Kurz darauf folgte die Annexion der Rest-Tschechei und der Überfall auf Polen, für diejenigen die in der Geschichte hin zum zweiten Weltkrieg nicht so bewandert sind.

Nimmt man Putin ernst, kann man baldige Invasionen in Estland, Lettland, Litauen, Polen, Finnland und Schweden erwarten. Das würde alles zum Plan der Wiederherstellung des glorreichen Sowjetimperiums nebst ausreichend Puffer zur NATO passen. Warum sollte Putin in der Ukraine haltmachen? Es gibt nur einen Grund, warum er das tun würde: wenn er sich im Ukraine-Krieg eine sehr sehr blutige Nase holt, an der Russland mindestens so lange zu knabbern hat wie die Sowjetunion an Afghanistan.

Fischer zur Ukraine

Ich hatte mich schon öfter lobend geäußert zu den Kolumnen von Thomas Fischer im Relotius-Blatt. Nun (im Sinne von „vor mehreren Tagen, aber ich komme erst jetzt dazu das zu kommentieren“) hat er eine Gastkolumne zum Ukraine-Konflikt veröffentlicht.

Und leider bestätigt sich die alte Regel, dass sich die meisten Leute halt nur mit ganz wenigen Themen wirklich genau auskennen und logisch stringente, historisch akkurate, inhaltlich überzeugende Dinge absondern können. Wer z.B. Fefe’s Blog verfolgt, wird das bestätigen können – großartig und auf den Punkt bei vielen IT-Themen, aber abgrundtief schlecht bei politischen und wirtschaftlichen Dingen. Ich empfehle trotzdem, dort regelmäßig mitzulesen, weil auch die absurd falschen Standpunkte oft amüsant formuliert sind. Auch wenn die häufig genutzte Ausrede „es war nur eine Medienkompetenzübung“ manchmal ermüdet – wie ein Lehrer, der Unsinn quatscht, und wenn sich ein Schüler beschwert sagt „ich wollte nur sehen, ob ihr aufpasst“.

Aber zurück zu Fischers aktuellem Machwerk, das schön illustriert, dass Fischer ein Jura-Inselbegabter ist – genauso wie Fefe ein IT-Inselbegabter ist. Schon der Titel „Scholz hat recht“ lässt aufhorchen, denn Scholz hat bekanntlich extrem selten recht. In diesem Falle hingegen würde ich sogar auch zustimmen: nachdem man jahrzehntelang den deutschen Energieverbrauch auf Gas getrimmt hat – vor allem bei der Raumwärme, aber auch bei der Stromerzeugung als notwendige schnelle Regelreserve für den Zappelstrom aus Wind und Sonne – wäre es jetzt geradezu grotesk, als allererste Sanktion einen Importstopp von russischem Erdgas zu verhängen. Das schadet Deutschland mehr als Russland, und würde es zudem Russland ermöglichen, auch die Ukraine von der Gasversorgung abzuklemmen, da signifikante Gasliefermengen bekanntlich durch Pipelines zu uns gelangen, die auch durch die Ukraine laufen.

Auch bei den beschriebenen Maßnahmen gegen Dinge russischer Herkunft bin ich noch weitgehend Fischers Meinung. Ekelhafte Symbolpolitik, nix wert außer „virtue signalling“. Vielleicht sind sogar die Paralympics eine Ausnahme, denn das russische Staatsdoping erstreckt sich auch auf diesen Bereich, und das wäre sicher der ehrlichere Grund gewesen, russische Athleten von den Wettkämpfen auszuschließen.

Aber dann wird es eben absurd. Selbstverständlich ist der russische Angriff nebst gezieltem Beschuss auf ukrainische Kernkraftwerke zu verurteilen. Die Einnahme eines Kernkraftwerks hat überhaupt keinen strategischen Wert und ist eher riskant, auch wenn die Sorgen über einen bevorstehenden Super-GAU wie immer in deutscher Gründlichkeit maßlos überzogen waren. Und auch der Hinweis, dass Russland selbstverständlich taktische Atomwaffen im Repertoire hat (wie die NATO auch) und diese im Ernstfall sicher auch einsetzen würde (im Gegensatz zur NATO – hier haben sie ausschließlich gemäß Doktrin ihre abschreckende Wirkung im Falle einer notwendigen Verteidigung gegen einen übermächtigen konventionellen Gegner aka „Warschauer Pakt Mitte der 80er“), hat absolut seine Berechtigung. Ich halte den Einsatz nicht für wahrscheinlich, aber zur Sprache bringen kann man diese Bedrohungslage doch sicherlich.

Auch die Charakterisierung von Waffenlieferungen an die Ukraine – selbst im Spezialfall die polnischen MiG 29, eine Aktion deren strategischen Wert ich nicht verstanden habe – als „Spiel mit dem Feuer“ ist doch eher putinversteherisch – bloß nicht den russischen Bären reizen, Deeskalation ist das Gebot der Stunde, Appeasement bis zur Selbstverleugnung. Fischers Rezeptur ist das, was seit den Nullerjahren gegen Russland bisher immer gescheitert ist, von Georgien über die Krim bis jetzt zur Ukraine. Wenn man sich anschaut, wie viele Waffen die Russen den Separatisten in der Ostukraine seit 2014 geliefert hat, wird die Doppelzüngigkeit der ganzen Situation nochmal deutlicher.

Und der Rest des Artikels ist dann einfach nur noch abstoßend. Wie Fischer hier der Ukraine die sofortige Kapitulation empfiehlt ist wirklich sehr unappetitlich. Bei der Verteidigung des eigenen Landes – und in diesem Falle der eigenen Freiheit, denn wie sich Putin die Zukunft der Ukraine vorstellt, kann man ja in Russland und Weißrussland schon besichtigen – geht es nicht um Heldenmut und heroische Großtaten, sondern schlicht ums Überleben. Und zwar nicht nur jetzt und kurzfristig, sondern die nächsten zwanzig oder dreißig oder fünfzig Jahre. Es geht darum, durch entschiedenen Widerstand gegen den Aggressor auch ein Zeichen für die Zukunft zu setzen, dass man es auch einem scheinbar überlegenen Gegner auf keinen Fall leicht machen wird und dass der Preis einer solchen Aggression eben hoch ist – und nur wenn der Preis hoch genug ist, werden künftige Diktatoren von Eroberungsfeldzügen dieser Art abgehalten. Deshalb gibt es auch überhaupt keinen Grund für „den Westen“, die Ukraine zur sofortigen Aufgabe zu bewegen. Ganz im Gegenteil – notwendig ist vielmehr eine Ausweitung der sinnvollen Waffenlieferungen von MANPADS bis zur klassischen Panzerfaust. Das wirkt besser als jede Sanktion, es ist gelebte Abrüstung. Und zwar auf der Seite des Aggressors.

Besonders witzig dann noch dieser Satz: „Russland wird weiter bestehen, die Ukraine wird weiter bestehen.“ Nein, lieber Herr Fischer: wenn sich die Ukraine in den ersten Tagen des Krieges ergeben hätte, würde die Ukraine auf absehbare Zeit eben nicht mehr existieren. Und Zar Wladimir wäre seines Ziels der Restauration der Zeit von Peter dem Großen wieder ein Stück näher gekommen. Für die Ukraine gibt es nur eine Zukunftsperspektive, und das ist die strikte Westbindung mit dem vollen Programm EU-Beitritt und NATO-Beitritt – nur das wird die Ukraine in Zukunft vor weiterer russischer Aggression schützen. Und es ist eine Schande, dass man diese Zukunft nicht schon nach der Annexion der Krim 2014 durch Russland zügig in die Tat umgesetzt hat. Schon 1938 hat Appeasement gegenüber dem Aggressor gar nichts genützt, und 2014 war es nicht anders. Und hat unweigerlich zur jetzigen Misere geführt. Und vielleicht ist es jetzt für eine Westbindung der Ukraine auf absehbare Zukunft schon zu spät.

Wenn man leidenschaftslos auf den Kriegsverlauf schaut (und das ist im Angesicht eines Krieges nie leicht), muss man zunächst konstatieren, dass der Kampf der Ukraine ums Überleben durchaus geeignet sein könnte, dem neu-zaristischen Russland (wahlweise auch: Reinkarnation der UdSSR) und seinen imperialistischen Gelüsten erst mal einen Riegel vorzuschieben. Die russischen Streitkräfte scheinen nicht ganz so stark zu sein wie es die Kreml-Propaganda in den letzten Jahren versucht hat darzustellen. Der hohe Blutzoll russischer Einheiten von Tschetschenien bis Syrien scheint kein Einzelfall gewesen zu sein.

Endet der Krieg (oder „die Spezialoperation“, wie die russische Propaganda nicht müde wird zu behaupten) mit dem ja zweifellos immer noch zu erwartenden russischen Sieg, und geht danach in den ebenfalls erwarteten asymmetrischen Konflikt über, werden die Russen zwar die Schlacht gewonnen haben, aber den Krieg werden sie verlieren. Ein derart großes Land dauerhaft besetzt zu halten halte ich für unmöglich, und insbesondere für prohibitiv teuer für einen Wirtschaftszwerg wie Russland. Eine Essenz des Vietnamkriegs war „reguläre Truppen verlieren wenn sie nicht gewinnen, irreguläre Truppen gewinnen wenn sie nicht verlieren“. Diese Erkenntnis sollte Russland in seinen Archiven der glorreichen UdSSR unter dem Stichwort „Afghanistan“ finden.