Allgemeine Erkenntnisse 2020

2020 war das „Corona-Jahr“, wie nicht nur die Themen fast aller meiner Beiträge hier im Blog nahelegen. Zum ersten Mal Pandemie. Klar ist: braucht man nicht nochmal. Die Verfügbarkeit einer wirksamen, nebenwirkungsarmen Impfung macht Hoffnung, dass zumindest die zweite Jahreshälfte weitgehend pandemiefrei wird.

Aber auch neben dem alles überschattenden Thema gab es bemerkenswerte Dinge.

Brexit. Jetzt doch mit Vertragswerk. Alles richtig gemacht, liebe Briten. Die EU wird ihren langen Weg des Siechtums nun ohne euch fortsetzen.

Luftqualität. Dank des großen Live-Experiments „die Pandemie reduziert das Verkehrsaufkommen drastisch“ haben wir nun nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch nachgewiesen, dass der Individualverkehr quasi gar nichts zur Luftschadstoffbelastung beiträgt. Wie gut, dass die Maßnahmen zielgenau auf den Individualverkehr ausgerichtet waren.

Rundfunkgebühr. 86ct pro Monat sind der Unterschied zwischen „leben“ und „sterben“. Dabei hat der ÖR-Rundfunk auch während der Pandemie eindrucksvoll nachgewiesen, wie komplett verzichtbar er ist. Egal zu welchem Thema, auf die komplette Einseitigkeit der Berichterstattung kann man sich stets verlassen. Vermutlich meinen das die Intendanten, wenn sie den ÖR-Rundfunk als den „verlässlichen Partner der Bürger“ darstellen.

Wahlen. Kann man (in Deutschland) problemlos rückgängig machen, wenn man sich leichtsinnigerweise von den Falschen wählen lässt. Was erlaube Landtag! Steht Ersatz nur in Form der Mauermörder- und Stasipartei bereit – egal. Gilt wohl schon als kleineres Übel. Wahlen in den USA und ihre teils fragwürdige Durchführung inklusive „warum sollten wir prüfen, ob jemand tatsächlich wahlberechtigt ist“ und „Wahlcomputer sind eine super Sache, lass‘ sie uns ans Internet anschließen“ sind medial gesehen keinen Aufreger wert, solange die (aus Mediensicht) richtige Seite gewinnt.

Verschlüsselung. Nach dem großartigen Erfolg des NetzDG nach dem Muster „Verschiebung ins Privatrecht“ und „mir doch egal, wie das bewerkstelligt wird, ich will das so haben“ jetzt also die Vorbereitung zum Todesstoß für die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung. Erinnert an den Flop mit der Kinderpornosperre, wo die gesamte Politikerkaste ihre komplette Ahnungslosigkeit schon einmal unter Beweis gestellt hat.

Verbrennerverbot. Man ist auf dem Weg, die EU bereitet alles Notwendige vor. Ich tippe auf spätestens 2030. Egal ob explizit oder implizit (wie der erste Entwurf zur Euro-7-Abgasnorm nahelegt). Man wird wohl als rational denkender Mensch ins „Kubanische Modell“ flüchten müssen – die alten Verbrenner-Schätzchen pflegen, solange es geht. Mal die Ostdeutschen fragen, die haben ja Trabbi-Erfahrung.

EU-Präsidentschaft. Ursula von der Leyen macht da weiter, wo sie im Verteidigungsministerium aufgehört hat. Selbstinszenierung, sinnlose Initiativen, planloses Vorgehen, teure Berater. Wer hätte das vorhersagen können, dass eine Universalversagerin, die schon als Familienministerin und Arbeitsministerin erfolgreich ihre grenzenlose Inkompetenz zur Schau gestellt hat, auf diesem wichtigsten der EU-Posten ebenfalls dilettiert.

Gleichstellung. Auf Tampons gilt nun der ermäßigte Mehrwertsteuersatz. Was für ein Fortschritt! Feministinnen dieser Welt, jubiliert. Wenn das ein wichtiges Thema war, sind wir dem Paradies ganz nah.

Klimakatastrophe. Fand wieder nicht statt. Wie jedes Jahr wurden aber erfolgreich diverse Ereignisse, die auf menschliches Versagen zurückzuführen sind bzw. völlig normal sind (ausufernde Waldbrände, beispielsweise in Australien – warum hörte niemand auf die Aborigines?), als Menetekel für die baldige Katastrophe missverstanden. Oberalarmist Rahmstorf vom PIK warnte mal wieder vor dem Anstieg des Meeresspiegels, obwohl auch hier überhaupt kein „Signal“ zu erkennen ist – der Meeresspiegelanstieg ist quasi konstant seit 150 Jahren. Egal, nächstes Jahr kommt wieder „der Golfstrom reißt ab“. Und neue Hitzerekorde. Und natürlich die Trockenheit! Da enttäuschte der Sommer 2020 leider ganz gewaltig, lag er doch deutlich über dem langjährigen Mittel. Scheiß Klima, hält sich an keine Prognose. Sowohl der Hitzesommer als auch die vielfach vorhergesagte sommerliche Dürre fiel ins Wasser.

Energiewende. Schreitet planmäßig voran (ähnlich dem Sozialismus in der DDR). Wichtigste Errungenschaft 2020: nach der erfolgreichen Abschaltung von Philippsburg 2 an Silvester 2019 wurden nun im Mai endlich die Kühltürme gesprengt. Da wollte wohl jemand ganz sicher gehen, dass das Kraftwerk als Notreserve nicht zur Verfügung steht. Nicht auszudenken, wenn dieser Elan und diese Termintreue beim BER an den Tag gelegt worden wäre. Oder bei der Elbphilharmonie. Oder bei der Digitalisierung des Schulunterrichts. Jedenfalls ist die Abschaltung der deutschen Kernkraftwerke in der post-Fukushima-Ära das beste Argument dafür, dass die Klimakatastrophe offenbar ein minimales Risiko ist: denn es muss ja kleiner sein als das Risiko des Weiterbetriebs der Kernkraftwerke, um im Gegenzug die diversen Kohlekraftwerke schnellstmöglich abschalten zu können. Also sehr nahe an 0.

Wer bis hier durchgehalten hat, hat sich sein „Guten Rutsch ins neue Jahr“ redlich verdient. Bis bald in 2021.

Corona-Erkenntnisse: Gesellschaft

In gewisser Weise ist die derzeitige Pandemie ein Live-Experiment. Man kann daraus einige Schlüsse ziehen bezüglich der Gesellschaft, in der wir leben. Bezüglich der Vor- und Nachteile von Entscheidungen, deren gravierende Nachteile vor der Pandemie niemand auf dem Zettel hatte. Bezüglich des Standes der Zivilisation ganz allgemein.

Vor allem im März diesen Jahres konnte man beobachten, was den Menschen wirklich wichtig ist und was eher so Folklore-Brimborium drumrum ist.

Kampf gegen den Klimawandel? Optional. Kein Wunder, ist die Katastrophe doch in Deutschland immer noch nicht absehbar, und findet weltweit weiterhin nur in Computermodellen und nicht in der Realität statt.

Gleichstellung der Frau? Trotz aller Bemühungen der Quoten-Idioten und der Feministen und Feministinnen zeigte sich, dass im Ernstfall eher die Ehefrau die Kinderbetreuung übernimmt als der Ehemann. Handelt es sich da womöglich um eine genetische Disposition? Erzählt das bloß keinem Gender-Experten, die sind immer noch auf dem „Blank Slate“-Trip, egal wie zahlreich die Indizien für das Gegenteil sind.

Outsourcen? Im Ernstfall keine gute Idee. Egal ob die Kinderbetreuung an Dritte abgegeben wird, oder man keine ausreichend große Wohnung für dauernden Aufenthalt hat, oder man keinen eigenen Garten zur „Naherholung“ hat, oder man auf ÖPNV statt Individualverkehr setzt, oder man außer Haus isst statt selbst zu kochen, oder ob man die Lagerhaltung dem Supermarkt überlässt statt dem eigenen Keller, oder ob man medizinisches Equipment nicht im eigenen Land herstellt sondern lieber importiert – wenn Krise ist, brechen scheinbar gut ausgedachte Konzepte schon mal zusammen. Belohnt wurden dieses eine Mal eher die Flexiblen, die Vorsichtigen, die Konservativen.

Selbständiges Nutzen von Informationsquellen? Ein sehr dunkles Kapitel. Die Bevölkerung scheint sich in zwei Teile zu teilen: diejenigen, die den „Mainstream-Medien“ alles glauben. Und diejenigen, die den alternativen Medien alles glauben. Aber nie zuvor konnte man mit so wenig Rechercheaufwand jede Menge offensichtlicher Falschaussagen (und „Falschaussagen“ hier nur in Anbetracht meines festen Glaubens an Hanlon’s Razor – bei vielen Akteuren bezweifle ich, dass die Dummheit so groß sein kann, und vermute eher „Lüge“) entlarven. Billigste Statistiktricks. Propaganda-Märchen. Berichterstattung in einer Einseitigkeit, die man vorher vielleicht vom „Neuen Deutschland“ kannte. Kreative Missinterpretation der Faktenlage. Und natürlich das Erstarken des Informationskanals „YouTube-Video“. Ganz ehrlich: wer hat die Energie, 45 Minuten Video anzuschauen, wenn man den Informationsgehalt in 2 Minuten lesen kann, mit einfachem Zugriff auf verlinkte Quellen und Querlesemöglichkeit nebst einfacher Zitiermöglichkeit? Es gruselt mich.

Temporärer Verzicht auf liebgewonnene Dinge? Scheint für viele absolut unmöglich zu sein. Urlaub im Ausland, Partys feiern, Großhochzeiten mitten in der Pandemie – alles scheint unbedingt und genau zu diesem Zeitpunkt absolut lebensnotwendig zu sein. Ein Blick in die derzeitige Situation in den Skigebieten lässt mich ratlos zurück. Der Verzichtsschmerz selbst bei Kleinigkeiten scheint bei vielen zu groß zu sein.

Die Krise hat mir deutlich gezeigt, dass weite Teile der Bevölkerung beim Thema „Gefahrenabschätzung“ in einer ganz anderen Welt leben als ich. Ebenso beim Thema „soziales Verhalten“. Mal ein ganz simples harmloses Beispiel. Meine Grundüberlegungen beim Hinterfragen meines eigenen Tuns für diese Pandemiesituation ist stets „was sind Maßnahmen, die gemessen an ihren Kosten einen verhältnismäßig großen Nutzen bringen“. So kommt man beim Themenkomplex „Einkaufen für den täglichen Bedarf“ relativ schnell auf Dinge wie „einer kauft für den gesamten Haushalt ein“, „Einkaufswagen vor der Nutzung an den Kontaktflächen desinfizieren“, „bei Eingang und Ausgang Hände desinfizieren“, „Maske tragen“, „so selten wie möglich einkaufen“, „Verkaufsstände im Freien nutzen“, „Aufenthalt in geschlossenen Räumen möglichst kurz halten“. Was ich tatsächlich beobachtet habe, waren Großfamilien beim gemeinsamen Einkauf, Kleinstmengen im Einkaufswagen, vor Beginn der Maskenpflicht kaum jemand mit Maske unterwegs, nur die Wenigsten nutzen die bereitgestellten Desinfektionsmittel. Ganz ehrlich, kann ich nicht nachvollziehen.

Es bleibt zu hoffen, dass uns niemals ein Virus ereilt, das noch gefährlicher als SARS-CoV-2 ist. Die Disziplin der Menschen hierzulande reicht vielleicht für zwei Wochen, und erschreckend viele sind entweder dumm oder sorglos oder boshaft – oder alles drei. Der Lack der Zivilisation ist dünn. Erschreckend dünn. Der Vorrat an Solidarität ist eng begrenzt. Wir leben in einem Land voller Ego-Arschlöcher.

Und noch eine Erkenntnis zum Abschluss: das alte Teile-und-Herrsche-Prinzip funktioniert weiterhin hervorragend. „Wir gegen die“. Die Aufklärung ist tot. Die Sachdebatte ist tot, wer am lautesten schreit hat recht. Das sorgsame Abwägen von Fakten und Argumenten ist tot. Nur noch Geschrei und Ideologie. Unser Weg zur vollständigen Polarisierung (und wer hier im Hinterkopf „Star Wars“ und „der Weg zur dunklen Seite“ hat, liegt genau richtig) ist vollendet. Keine guten Vorzeichen für 2021. Pessimismus? Ich fürchte, es ist Realismus.

Corona-Erkenntnisse: Impfen

Nachdem die EU – wie immer als Letzter in der Welt – einen Impfstoff offiziell zugelassen hat, den hierzulande von BioNTech (dümmste Camel-Case-Schreibweise seit nVidia, die inzwischen auf NVIDIA bestehen) entwickelten und in Zusammenarbeit mit dem Pharma-Riesen Pfizer getesteten, produzierten und verteilten mRNA-basierten „BNT162b2“, wird nun seit letztem Sonntag auch in Deutschland gegen SARS-CoV-2 geimpft.

Zeit, sich über das Impfthema ein paar Gedanken zu machen. Wer sich für die diversen Impfstoffe im Detail interessiert, dem will ich einen Artikel bei heise Online von c’t-Prozessorgeflüster-Legende Andreas Stiller ans Herz legen.

Wenn man im Detail hinschaut, fällt mir als erstes das Wort „Politikversagen“ ein. Es ist ja eine Sache, eine Behörde sehr gründlich die Ergebnisse der bei Impfstoffzulassungen üblichen Testphasen I, II und III prüfen zu lassen, wie es die EMA getan hat. Auch wenn offen bleibt, warum es dort viel länger dauert als in USA, UK, Kanada oder Israel. Aber was genau sprach dagegen, sich seit spätestens Beginn der Testphase II auf Massenimpfungen logistisch vorzubereiten? Was sprach dagegen, von ALLEN im Rennen liegenden Impfstoffen eine ausreichende Menge bereits vorab zu bestellen? Was sprach dagegen, bereits vor dem endgültigen „Zugelassen“-Prüfsiegel die Logistik bereits abgeschlossen zu haben, um dann sofort mit den Impfungen zu beginnen? Und was kann so schwierig sein, innerhalb sagen wir einem Monat die Risikogruppe zu impfen? Wir führen jährlich Grippeimpfkampagnen durch, vor der Grippesaison 2019/2020 wurden 14 Millionen Impfdosen verabreicht. Und das ohne mobile Impfteams, ohne Impfzentren, einfach nur „Hausarzt impft“. Ist es ein Personalproblem? Wir haben doch angeblich jede Menge arbeitsfähige Menschen, die durch den Lockdown nur noch Däumchen drehen. Nein, es riecht alles nach demselben organisatorischen Versagen, wie wir es so oft erleben, wenn der Staat eine Sache in die Hand nimmt. Bei den Corona-Massentests hat sich das schon gezeigt, bei der Kontaktnachverfolgung, beim nicht besonders erfolgreichen Projekt „Schutz der Risikogruppe“, und natürlich beim Dauerbrenner „Berliner Flughafen“. So ist das, wenn komplette Unfähigkeit auf Behäbigkeit nebst Technikfeindlichkeit trifft.

Besonders die unzureichende Beschaffung treibt mich auf die Palme. Sowohl BioNTech/Pfizer als auch Moderna hätten deutlich mehr Impfdosen deutlich zügiger produzieren und liefern können, als es in der EU und Deutschland heute der Fall ist. Es ist in einer solchen Situation nicht angezeigt, aus falscher Sparsamkeit nur auf einige wenige Pferde zu setzen. Man setzt auf alle Pferde gleichzeitig, mit großzügig bemessenen Bestellungen. Kommen mehrere Pferde praktisch zeitgleich ins Ziel, verhökert man die übrigen Impfdosen in alle Welt. Oder verschenkt sie im Rahmen der Entwicklungshilfe – allemal ein sinnvollerer Gedanke als vieles, was hierzulande sonst so als Entwicklungshilfe betrieben wird.

Und nochmal zur EU: die Regularien hätten es erlaubt, im Rahmen der zweifellos bestehenden nationalen Krisenlage hier außerhalb des normalen EU-Rahmens zu agieren. Warum man es trotzdem bevorzugt hat, das typische europäische Kompromissspielchen mitzuspielen („lass‘ uns doch von diesem französischen Impfstoff auch noch ein paar hundert Millionen Dosen ordern, dafür von den am weitesten fortgeschrittenen Impfstoffen entsprechend weniger“) – auch das fällt unter „Politikversagen“. Und ist ein weiterer Sargnagel für die EU in ihrer jetzigen Form, die zum wiederholten Male ihre komplette Nutzlosigkeit bis Schädlichkeit unter Beweis stellt. Es ist eine Schönwetter-Union, doch leider ist seit Ende des kalten Krieges permanent schlechtes Wetter.

Aber zurück zum Impfstoff selbst. Jede Impfung ist zunächst mal eine Kosten-Nutzen-Abschätzung – wie groß ist das Risiko von Nebenwirkungen? Wie groß ist diese Wahrscheinlichkeit im Vergleich um Erkrankungsrisiko? Wie ist die Wirksamkeit des Impfstoffes einzuschätzen? Die Testphase III hat da für die mRNA-basierten Impfstoffe von BioNTech und Moderna vielversprechende Zahlen geliefert. Keine einzige seriöse Nebenwirkung wurde beobachtet, die Wirksamkeit entfaltet sich schon nach der ersten von zwei notwendigen Dosen, und liegt nach zwei Dosen jenseits der 95%. Auch wenn nicht in jedem Falle der Ausbruch der Krankheit verhindert werden kann, so scheint zumindest sicher zu sein, dass ein Ausbruch in solchen Fällen sehr viel weniger heftig wird.

Unklar ist im Moment noch, inwieweit die Impfung die Infektiosität eines Infizierten senkt. Die Frage ist: kommt es darauf wirklich an? Wenn ausreichend Menschen der Risikogruppe geimpft und damit größtenteils geschützt sind, ist das Hauptziel doch schon erreicht. Und aus rein logischen Überlegungen würde ich erwarten, dass wenn das Immunsystem den SARS-CoV-2-Erreger frühzeitiger und wirkungsvoller bekämpfen kann – und das ist ja schließlich das, was der Impfstoff bewirken soll – zumindest die Dauer, während der ein Infizierter selbst infektiös ist, deutlich sinkt. Jedenfalls wird man eine wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis sowieso nur „after the fact“ erlangen können – zur Entscheidung, ob man den Impfstoff einsetzt oder nicht, taugt dieser festgestellte Mangel an Erkenntnis sowieso nicht.

Bei den zu erwartenden Nebenwirkungen liegt die Sache ganz ähnlich. Die Testphase III ist ja recht breit angelegt, im Falle des BioNTech-Impfstoffes waren es über 40000 Teilnehmer, die Hälfte davon die Placebo-Kontrollgruppe. Ungefähr die Hälfte der Probanden waren aus der Risikogruppe ab 60 Jahren, inklusive Vorerkrankungen. Trotzdem traten keine dramatischen Nebenwirkungen auf, nur das „Übliche“ wie Kopfschmerzen, leichtes Fieber, Abgeschlagenheit oder Schmerzen an der Einstichstelle. Also nichts, was man nicht von einer gewöhnlichen Grippeimpfung schon kennt.

Logischerweise ersetzt – wie mindestens jeder Software-Entwickler weiß – kein noch so guter Test die Erfahrungen in der Breite, in der Praxis. Es wäre ein Wunder, wenn bei – sind wir mal optimistisch – 60 Millionen geimpften Menschen in Deutschland nicht mindestens ein paar signifikante Fälle von heftigen Nebenwirkungen auftreten würden. Aber nehmen wir als Benchmark mal eine Impfung der Vergangenheit, die als die unverträglichste Impfung der letzten 40 Jahre gilt: die Schweinegrippe-Impfung 2009, als sich im Nachhinein herausstellte, dass einer der drei in Europa zugelassenen Impfstoffe, „Pandemrix“ von GlaxoSmithKline, in Deutschland mit knapp 100 Verdachtsfällen von Narkolepsie in Verbindung gebracht wird. Die zusätzlichen Fälle von Narkolepsie (von unterschiedlichster Schwere) belaufen sich auf geschätzt 2-6 pro 100000 Pandemrix-Impfungen bei Kindern und Jugendlichen, und um 0,6-1 Fall bei Erwachsenen, und sind damit immer noch sehr klein gegenüber der Prävalenz von 28-50 pro 100000 Einwohner. Wie bei anderen Impfschäden gibt es auch hier den Verdacht, dass die Impfung in diesen seltenen Fällen sowohl durch Vorerkrankungen begünstigt waren als auch ganz ähnliche Krankheitsbilder hervorruft wie der Virus selbst, gegen den geimpft wird. Was ja auch logisch ist, soll ja der Impfstoff eine ähnliche Reaktion im Körper hervorrufen, sonst würde das Immunsystem ja gar nicht aktiv werden und könnte so auch nicht durch die Impfung trainiert werden.

Im Falle zu befürchtender Nebenwirkungen kann man jetzt das oben angeprangerte Politikversagen als Vorteil sehen: durch die Verzögerungen spielen die Menschen in den USA, in Kanada, in UK und in Israel die Vorhut beim Praxistest. Obwohl schon reichlich geimpft wurde, gibt es noch keine besorgniserregenden Meldungen von schwerwiegenden Nebenwirkungen. Auch an dieser Front ist es also eher entspannt.

Klar ist: das Thema Nebenwirkungen wird nun jahrelang eine Goldgrube für alle Horrornachrichtenmelder dieser Welt sein. Man sollte aber immer im Blick behalten, was die Alternative zur Impfung ist – Einschränkungen im Alltag, eine signifikante Anzahl von Todesfällen, ein belastetes Gesundheitssystem insbesondere im intensivmedizinischen Bereich, erhöhte Ausgaben bzw. geringere Steuereinnahmen wegen Erkrankungen. Ich halte es für ausgeschlossen, dass die Impfung in der Kosten-Nutzen-Abwägung gegenüber „keine Impfung, weiter wie 2020“ schlechter abschneidet. Das wird die Impfskeptiker aber nicht davon abhalten, jedwede Erkrankung, die irgendein Geimpfter auch Jahre später entwickelt, auf die Impfung zurückzuführen. Weil Ungeimpfte ja niemals erkranken. Auf diese Paranoiker-Festspiele darf man sich schon freuen.

Ein paar der üblichen Verdächtigen – Wodarg und Co., die schon immer passionierte Impfgegner waren, egal um welche Impfung es ging – haben ja auch wieder Pamphlete verfasst, die allerlei Hypothesen aufstellen, was denn dieses Mal bei genau dieser Impfung alles schiefgehen wird. Sagen wir es mal so: nachdem sie in der Vergangenheit noch nie recht hatten, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass die mit der Streuung einer Schrotflinte versehenen Befürchtungen auch nur im Ansatz wahr werden. „Unsubstanziiert“ und „weit hergeholt“ ist wohl noch das Freundlichste, was man über die diversen Behauptungen von „es droht Unfruchtbarkeit“ bis zu „unnütze, teure und hochriskante Gen-Manipulation“ sagen kann.

Besonders die Befürchtungen aufgrund der Tatsache, dass die Impstoffe von BioNTech und Moderna auf mRNA-Basis funktionieren – „Gentechnik ist immer riskant!“ dräut es da dem geübten Paniker – erweisen sich bei näherer Betrachtung als gegenstandslos. Ja, es handelt sich um den ersten zugelassenen Impfstoff auf mRNA-Basis für Menschen. Aber er wirkt wie jeder andere Impfstoff auch, die Technologie wird bereits bei Impfungen für Tiere verwendet, und die Theorie sagt eindeutig, dass ein solcher Impfstoff zielgenauer wirkt, weniger Nebenwirkungen hat und auch noch preiswerter und schneller zu produzieren ist. Letzteres wird gerne verschwiegen, weil damit das geliebte Narrativ der gierigen Pharmakonzerne nicht bedient werden kann.

Eine oft gehörte Befürchtung ist ja auch, dass diese neuen Corona-Impfstoffe unter dem Motto „Schnelligkeit statt Gründlichkeit“ entwickelt worden seien. Nun ist es zweifellos richtig, dass die Impfstoffe in Rekordzeit zur Verfügung stehen – etwas, was die größten Optimisten nicht zu hoffen gewagt hatten (unter anderem deshalb war zu Beginn der Pandemie ja auch die Strategie „Herdenimmunität mittels Durchseuchung“ in der Diskussion, bevor die dramatisch zu hohe IFR diesem Konzept Einhalt gebot). Aber: die durchgeführte Erprobung mit den drei Phasen lief genauso wie bei allen anderen Impfstoffen der Neuzeit. Diesmal hatte man aber mehrere Vorteile auf seiner Seite: etwas weniger Bürokratie bei der Forschungsförderung (und da können wir US-Präsident Trump dafür sehr sehr dankbar sein – ohne sein „Project Warp Speed“ wären wir vermutlich noch lange nicht so weit), eine massivparallele Entwicklung von zig Impfstoffkandidaten bei allen forschenden Pharma-Firmen und diversen innovativen Startups sowie zig Universitäten, dazu eine hohe Prävalenz des Virus in der Bevölkerung – so konnte man die Wirksamkeit des Impfstoffes sehr viel schneller feststellen, als bei sehr viel selteneren Krankheiten, wo man schon mal ein Jahrzehnt warten muss, bis eine ausreichende Anzahl von Probanden erkrankt.

Man muss sich vor Augen führen, woran viele gescheiterten Impfstoffentwicklungen der Vergangenheit krankten: die Krankheit war zu selten, die Viren waren zu mutationsfreudig, meist nur ein Pharmaunternehmen arbeitete mit eher verhaltener Kraft daran. Letzteres liegt daran, dass Impfungen als nicht besonders lukratives Feld gelten. Diesmal ist alles anders: alle arbeiten dran, alle mit voller Kraft, die Gewinnaussichten sind verlockend, und es geht zusätzlich um eine Menge Prestige. Es ist ein wenig wie Formel 1 – hochkompetitiv, die besten Köpfe arbeiten dran, der Wettbewerb sorgt für dramatischen Fortschritt.

Und wie steht es mit einer Impfpflicht? Wie schon bei der Diskussion um eine Masern-Impfpflicht finde ich das Thema schwierig. Die Abwägung zwischen persönlichem Entscheidungsrecht und gesamtgesellschaftlichem Nutzen ist ja Dauergast der gepflegten politischen Debatte. Im Moment überlegt die SPD gar, ins Vertragsrecht einzugreifen und zu verbieten, dass private Anbieter zwischen Geimpften und Nichtgeimpften unterscheiden dürfen. Das weckt den Widerstandgeist des Liberalen in mir, dem die Vertragsfreiheit heilig ist. Warum sollte z.B. eine Fluggesellschaft nicht damit werben dürfen, dass nur nach Impfnachweis eine Beförderung möglich ist? Das ist doch für den einen oder anderen eine wichtige Entscheidunsgrundlage für das Beförderungsrisiko. Genauso kann das Theater um die Ecke mit einem pandemieverhindernden leistungsfähigen Luftaustauschsystem hausieren gehen. Oder ein Restaurant mit dem besten Hygienekonzept. Transparenz schafft Wettbewerb, und kann zudem zu neuen Erkenntnissen führen. Wenn als Fallbeispiel viele Neuerkrankte vorher mit einer Fluggesellschaft geflogen sind, die keinen Impfnachweis voraussetzt, kann man das Risiko doch viel besser einschätzen.

Kommen wir zum Abschluss zur Impfstrategie. Da sind ja nun mehrere verschiedene Ausprägungen denkbar. In Deutschland macht man grob die Reihenfolge „extreme Risikogruppe, medizinisches Personal, systemrelevantes Personal, Risikogruppe, alle anderen“. Man könnte sich aber auch auf den Standpunkt stellen, zunächst das gesamtgesellschaftliche Risiko zu minimieren – also das medizinische Personal und das Pflegepersonal nebst den systemrelevanten Gruppen wie Feuerwehr, Polizei und andere Hilfskräfte zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, und danach diejenigen, die hauptsächlich das Virus verbreiten, also eher die jüngeren mit geringerem persönlichem Risiko. Solange aber nicht klar ist, dass eine Impfung nicht nur erheblichen persönlichen Nutzen hat, sondern auch die Weiterverbreitung des Virus stark reduziert, scheint das nicht die beste Strategie zu sein. Und wenn man es organisatorisch hinkriegen würde, die Risikogruppe nebst dem medizinischen Personal in einem Monat durchzuimpfen, müsste man sich auch um irgendwelche Optimierungsstrategien gar keinen Kopf machen.

Und was kostet das alles? Sagen wir es mal so: es liegt sehr viel näher an der trittinschen „Kugel Eis“ als unsere Energiewende. Und die Impfung wird einen dramatischen volkswirtschaftlichen Nutzen entfalten, während die Energiewende einfach nur als teures deutsches Hobby in die Weltgeschichte eingehen wird.

Um am Ende noch mit einer optimistischen Note zu schließen: es ist nicht gänzlich unwahrscheinlich, dass die Forschung rund um die Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 bzw. COVID-19 den Grundstein gelegt haben für zukünftige, sehr erfolgreiche Impfungen gegen allerhand nervige bis tödliche Viren, mit denen die Natur uns ständig auszurotten versucht. Neben dem neuen Bewusstsein für soziale Grundlagen wie „Hygiene“ die vermutlich positivste Auswirkung der Corona-Misere.

Corona-Erkenntnisse: Maßnahmen

Seit SARS-CoV-2 sein Unwesen treibt und weltweit mal mehr, mal weniger Maßnahmen härterer oder weicherer Natur von der Politik beschlossen und durchgesetzt werden, diskutiert man angeregt bis panisch über tatsächliche und vermutete Folgen dieser Maßnahmen und Einschränkungen. Und natürlich über deren Wirksamkeit bezüglich der Eindämmung der Pandemie. Und manchmal gar diskutiert man, ob es überhaupt sinnvoll ist die Pandemie eindämmen zu wollen.

Einigermaßen einig ist man sich beim Thema „Schutz der Risikogruppe“ – also zumindest bezüglich des prinzipiellen Ziels. Aber schon bei der Abgrenzung dieser Gruppe gehen die Meinungen auseinander. Als wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis kann man bisher sagen, dass das Risiko stark korreliert ist mit dem Alter. Ab 80 aufwärts ist man extrem gefährdet, ab 70 aufwärts auch schon ziemlich, ab 50 aufwärts kann man in den Zahlen schon ein deutlich steigendes Risiko erkennen. Und dann ist da noch das Thema „Vorerkrankungen“. Leider gehören auch die sogenannten „Zivilisationskrankheiten“ wie Diabetes, Bluthochdruck und Übergewicht zum Kreis der das Risiko signifikant erhöhenden Vorerkrankungen. Und letztlich werden diese im Alter auch deutlich häufiger. Je nach Rechnung landet man für Deutschland bei einer Risikogruppe, die 10 bis 40 Millionen Menschen umfasst. Und schon wird klar, warum man sich bezüglich zu ergreifender Maßnahmen zum Schutz dieser Gruppe so schwertut. Ganz abgesehen von der offenen Diskussion, welches Risiko einer schweren Erkrankung man in Abwägung gegen Güter wie wirtschaftliche Gesundheit und Freiheitsrechte einzutauschen gedenkt.

Eine Vielzahl von Maßnahmen wird derzeit diskutiert bzw. ist bereits umgesetzt oder wurde in der ersten Welle im März und April diesen Jahres umgesetzt und ist derzeit nicht mehr aktuell. Letztlich kann man jede Maßnahme nach ihren unterschiedlichen Dimensionen bewerten: Wie wirksam ist sie? Wie schädlich ist sie (z.B. für die Wirtschaft, für die menschliche Psyche)? Wie sehr schränkt sie die Freiheit ein, und für wie wertvoll hält man eine solche Freiheit? Wie groß ist die Gruppe der Betroffenen? Wie gut ist die Einhaltung kontrollierbar? Vor allem letzteres kommt in der Diskussion nach meiner Einschätzung oft zu kurz. Wenn uns diese Krise aber eines gelehrt hat, dann doch ganz sicher, dass der Erlass einer Regelung keinesfalls automatisch zu einer breiten Einhaltung derselben führt. Es muss kontrolliert werden und es müssen empfindliche Strafen drohen, sonst sind breite Teile der Bevölkerung nicht willens, sich an Regelungen zu halten. Dass das nicht überraschend kommt, kann man täglich im Straßenverkehr beobachten. Es hilft natürlich, wenn Regelungen erlassen werden, deren Nutzen klar auf der Hand liegt und möglichst gleichmäßig wirkt, also möglichst viele nur möglichst gering betroffen sind. Letzteres auch deshalb, weil erschreckend große Teile der Bevölkerung nicht über die Geisteshaltung von Kleinkindern nach dem Muster „der darf X, warum darf ich dann nicht Y?“ hinausgekommen sind.

Als gesetzt gelten die „AHA-Regeln“ – Abstand, Hygiene, Alltagsmaske (und man fragt sich direkt, warum es nicht die AHM-Regeln sind). Inzwischen ergänzt durch „Lüften“, nachdem man endlich zur Kenntnis genommen hat, dass auch Aerosole entscheidend zur Übertragung des SARS-CoV-2-Virus beitragen. Jedenfalls ist „AHAL“ ein Regelsatz, der extrem preiswert in der Umsetzung ist, und keinen überfordern sollte. Auch wenn verschiedentlich die Maskenpflicht hart angegangen wird, mit allerhand fragwürdigen Argumenten. Zur Information, falls es in Vergessenheit geraten ist: es gibt auch die Gurtpflicht und die Helmpflicht. Das sind dann wohl auch unzumutbare Einschränkungen der persönlichen Freiheit.

Wenig Kritik gibt es an der Maßnahme „Verbot von Großveranstaltungen“. Aber m.E. gibt es ein dramatisch unterschiedliches Infektionsrisiko bei Veranstaltung im Freien gegenüber Veranstaltungen in engen, schlecht belüfteten Räumen. Und so ist es mit Logik nicht zu erklären, warum Fußballspiele unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, während Gottesdienste stattfinden dürfen. Auch die Verbote diverser Demonstrationen unter freiem Himmel haben ein „Gschmäckle“, zumal ja gerne, wie zuletzt in Berlin, nur der einen Seite die Demonstration verboten wird, die Gegendemonstrationen hingegen zugelassen werden. Das kann schon den Eindruck erwecken, dass die Regierenden gerne die Opposition an der öffentlichkeitswirksamen Meinungsäußerung hindern würde. Das NetzDG geht ja letztlich in dieselbe Richtung, aber das soll hier nicht Thema sein.

Nun hat sich, wie man unschwer an den Infektionszahlen, den Belegungszahlen der Intensivstationen und den Todeszahlen ablesen kann, herausgestellt, dass diese Regeln bei weitem nicht ausreichen, um bei kühlerem Wetter die Pandemie unter Kontrolle zu halten. Während im Sommer die 7-Tage-Inzidenz in den Landkreisen im Großen und Ganzen so bei 10-50 positiven Tests pro 100000 Einwohnern lag, sind inzwischen einige Landkreise schon bei über 500 gelandet. Und entsprechend ist auch die Belastung des Gesundheitssystems inzwischen am Limit oder schon darüber hinaus. Und der „Lockdown Light“, der vor einigen Wochen beschlossen wurde, hat bisher die Infektionszahlen auf hohem Niveau stagnieren lassen, aber ein Sinken ist noch(?) nicht erkennbar.

Und obwohl das so ist, gibt es eine Art Dauerfeuer gegen die diversen Einschränkungen, die im Moment gelten. Gegen die Einschränkungen der privaten Kontakte, der privaten Feierlichkeiten, diverser Veranstaltungen, und natürlich die Schließung von Restaurants und Bars. Jede einzelne dieser Maßnahmen ist selbstverständlich diskutierbar – aber man sollte dann zumindest sagen, welche Maßnahmen denn stattdessen sowohl wirkungsvoller sind als auch weniger Freiheitseinschränkungen mit sich bringen.

Mein Vorschlag wäre, die Sache mit dem Schulunterricht nochmal kritisch zu beleuchten. Während nach jetzigem Wissensstand kleine Kinder bis etwa 10 Jahren kaum für das Infektionsgeschehen verantwortlich sind, sieht das bei älteren Kindern schon anders aus. Und es kann mir keiner erzählen, dass die Durchführung von Online-Unterricht das allergrößte Problem sein soll – zumindest nicht für die Schüler. Bei den Lehrern kann man sich das eher vorstellen, gibt es dort doch einige, die den neuen Medien nicht besonders aufgeschlossen gegenüberstehen. Jedenfalls ist Schulunterricht in vollen Klassenräumen ein mehrfaches Risiko: viele Menschen auf engem Raum, und sowohl davor als auch danach häufige Nutzen des öffentlichen Nahverkehrs, um auch ganz bestimmt für eine gleichmäßige Verbreitung der Virenlast zu sorgen. Und der öffentliche Nahverkehr ist sowieso überlastet, es würde die Infektionsgefahr dort stark reduzieren, wenn Schulkinder ihn nicht auch noch nutzen würden.

Nun sind die Argumente gegen Onlineunterricht schon häufig vorgebracht worden – meines Erachtens sind sie aber keineswegs stichhaltig. Ja, es gibt natürlich Kinder, die die technische Ausstattung nicht haben, um adäquat an Online-Unterricht teilzunehmen. Aber wie viele sind das pro Schulklasse? Die naheliegende Lösung ist doch, für genau diese Kinder eine Lösung zu finden. Z.B. dass der Lehrer weiterhin Präsenzunterricht im Klassenzimmer macht vor den zwei bis drei Schülern die betroffen sind, und der große Rest schaltet sich online dazu. Oder man sorgt einfach dafür, dass den Kindern eine entsprechende Ausstattung zur Verfügung steht – das ist allemal preiswerter, als hinterher mit einer höheren Zahl an Erkrankten umzugehen. Wie viele ungenutzte, ausrangierte Laptops gibt es wohl in der Wirtschaft? Wie schwer kann es sein, die einzusammeln und den bedürftigen Kindern zur Verfügung zu stellen? Warum nicht Privatpersonen fragen, inwieweit sie temporär mit tauglicher Hardware aushelfen können? Dass dieses Projekt nicht schon im März angegangen wurde, sondern man die wertvolle Zeit einfach verstreichen ließ und nun auf demselben einer ehemals führenden Industrienation unwürdigen Stand herumkrebst ist das eigentliche Versagen der Politik in dieser Krise. Ja, wer konnte auch schon ahnen, dass die Sommerferien zu Ende gehen.

Ein weiteres trauriges Kapitel ist das Thema „Kontaktnachverfolgung“, und ein Teil des Problems ist der Geburtsfehler „Datenschutz über alles“ der Corona-Warn-App. Ob es nun 15 oder 20 Millionen Nutzer der App sind, ist eigentlich auch egal. Es sollten ja mindestens 60 Millionen sein. Aber selbst, wenn die App so weit verbreitet wäre: sie würde kaum etwas nutzen. Denn es fehlt der App an entscheidenden Dingen: dem direkt sichtbaren Nutzen für den Nutzer, und der Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit der Einspeisung des Testergebnisses. Denn dieses liegt bekanntlich ausschließlich in der Hand des Nutzers der App und nicht etwa des Labors, das ja das Testergebnis zuerst kennt. Und auch den geringsten Aufwand hätte, das Testergebnis automatisiert ins System zu bringen.

Und so funktioniert „Kontaktnachverfolgung“, die eigentlich bequem und sicher und schnell durch die Corona-Warn-App funktionieren könnte bis heute fast ausschließlich über manuelle Bemühungen der Gesundheitsämter, einige wenige der bekannten Kontakte telefonisch zu erreichen, um ggf. den Gesundheitszustand abzufragen und weitere Tests zu veranlassen. Dass dieses Vorgehen nicht skaliert, sollte klar sein. Und es hat schon nicht funktioniert, als die oben erwähnte Inzidenz im niedrigen zweistelligen Bereich ist, und logischerweise funktioniert es jetzt inmitten der zweiten Welle immer noch nicht. Oder besser gesagt erst recht nicht.

Wie sollte die App stattdessen funktionieren? Im Sommer wäre es z.B. ein geeignetes Mittel gewesen, das Thema „Kontaktliste“ in Restaurants elektronisch und anonym zu lösen. Das wäre ein echter Vorteil für App-Nutzer gewesen. Ein von der App identifiziertes erhöhtes Risiko könnte automatisch das Recht auf einen Test bedeuten – App vorzeigen, Test machen, am selben Tag das Testergebnis bekommen, das automatisch in der App auftaucht, sobald das Laborergebnis vorliegt. Damit könnte man sogar den Test selbst anonymisieren – noch ein Vorteil für App-Nutzer, sofern sie Datenschutzjunkies sind. Und warum reicht ein Risiko, das die App verkündet, nicht automatisch beim Arbeitgeber, bei der Schule, bei der Universität als Krankheitsnachweis? Das würde doch geradezu einen Schub für die Entbürokratisierung bedeuten – kein sinnloses Warten beim Arzt auf die Krankschreibung, und damit automatisch auch noch eine Reduktion des Infektionsrisikos für alle Beteiligten.

Ein interessantes Schauspiel konnte ja auch im Sommer in der Urlaubszeit beobachtet werden. Wer glaubte, dass die zahlreichen Lippenbekenntnisse bezüglich der großen Solidarität der Menschen hierzulande tatsächlich substanzieller Natur seien, also sich in individuellem verantwortlichen Handeln niederschlagen würden, sah sich getäuscht. Denn nur die anderen sollten besser zu Hause bleiben, man selbst hatte aber jede Menge gute Gründe, ins Ausland zu reisen. Ob Familienbesuch oder Erholungsurlaub, die zahlreichen Infektionen durch die Reiserückkehrer verteilten den Virus gleichmäßig über die Republik und sorgten für das vielzitierte „diffuse Infektionsgeschehen“, das für Kontaktnachverfolgung natürlich Gift ist – die Infizierten waren vorwiegend jüngere, eher gesunde Menschen, und so konnte sich der Virus lustig erst mal ausbreiten, bis durch Erkrankungssymptome viel zu spät erkannt wurde, was Sache ist.

Am Ende bleibt die Erkenntnis, die der große schwäbische Philosoph Uli Keuler völlig zurecht als Grundhaltung vieler Menschen auf den Punkt brachte: „Und ich denke da auch gar nicht an mich sondern nur an Euch wenn ich sage, dass Opfer gebracht werden müssen.“

Der „Lockdown Light“ der letzten Wochen hat uns gezeigt, dass ein paar wenige Maßnahmen es nicht bringen, wenn die Infektionszahlen einmal außer Kontrolle geraden sind. Das kommt nicht überraschend, sondern war schon der Erkenntnisstand der ersten Welle – wer zu spät wirksame Maßnahmen ergreift, braucht tendenziell schärfere Maßnahmen über einen längeren Zeitraum, um das Infektionsgeschehen wieder unter Kontrolle zu bringen. Zynisch gesagt: gut, dass wir das jetzt noch ein weiteres Mal experimentell bestätigt haben. Lernen durch Schmerz.

Ich halte die m.E. sicheren Erkenntnisse nochmal fest: AHAL alleine reicht derzeit nicht, dazu ist der Virus zumindest in der kälteren Jahreszeit zu infektiös. Sobald die Prävalenz zu hoch ist, kann man die Risikogruppe nicht mehr adäquat schützen, denn sie ist viel zu groß und überall. Kontaktnachverfolgung funktioniert nur, wenn sie automatisiert und schnell erfolgt. Die Erfolgsgeschichte bei der Corona-Eindämmung in Japan, Südkorea, Norwegen, Finnland und Taiwan zeigt das – aber auch, dass „Insellage“ vorteilhaft ist. Entsprechende noninvasive Maßnahmen bei der Einreise (beispielsweise Fieberscanner) oder Antikörper-basierende Schnelltests, die zwar kein verlässliches Positiv-Ergebnis bringen aber relativ verlässlich eine aktive Infektion ausschließen können, wären aus meiner Sicht absolute Mindeststandards.

Besonders ermüdend finde ich die Diskussion über die diversen „Grenzen“. Ja, es ist natürlich völlig willkürlich, ob 50 die Grenze der Inzidenz ist oder 43 oder 58. Oder 86. In einer Lage, wo man nahezu ausschließlich qualitative Dinge feststellen kann und ungefähre Prognosen stellen kann, ist es doch lächerlich, gerade bei solchen Grenzwerten absolute Präzision und Nachvollziehbarkeit zu fordern. Und es ist letztlich auch willkürlich, ob man die Maßnahmen erst verschärft, wenn die Intensivstationen schon aus allen Nähten platzen, oder schon dann, wenn sich eine Überlastung am Horizont abzeichnet. Für einige Diskutanten scheint es besonders erstrebenswert zu sein, das Gesundheitssystem dauerhaft nahe des absoluten Limits zu betreiben. Hohe Auslastung war schließlich immer ein sinnvolles ökonomisches Ziel. Denn dass man einfach nur daran interessiert ist, den älteren Teil der Bevölkerung möglichst zügig zu eliminieren, daran will ich nicht glauben. Soviel Optimismus in Bezug auf die Geisteshaltung meiner Mitmenschen kann ich immerhin noch aufbringen. Auch wenn es mir manchmal schwerfällt, etwas anderes als „Menschenverachtung“ aus den Worten diverser Diskussionsbeiträge zu lesen. Nie war der Egoismus so vieler Leute so greifbar wie in dieser Krise.