Corona-Erkenntnisse: Impfen

Nachdem die EU – wie immer als Letzter in der Welt – einen Impfstoff offiziell zugelassen hat, den hierzulande von BioNTech (dümmste Camel-Case-Schreibweise seit nVidia, die inzwischen auf NVIDIA bestehen) entwickelten und in Zusammenarbeit mit dem Pharma-Riesen Pfizer getesteten, produzierten und verteilten mRNA-basierten „BNT162b2“, wird nun seit letztem Sonntag auch in Deutschland gegen SARS-CoV-2 geimpft.

Zeit, sich über das Impfthema ein paar Gedanken zu machen. Wer sich für die diversen Impfstoffe im Detail interessiert, dem will ich einen Artikel bei heise Online von c’t-Prozessorgeflüster-Legende Andreas Stiller ans Herz legen.

Wenn man im Detail hinschaut, fällt mir als erstes das Wort „Politikversagen“ ein. Es ist ja eine Sache, eine Behörde sehr gründlich die Ergebnisse der bei Impfstoffzulassungen üblichen Testphasen I, II und III prüfen zu lassen, wie es die EMA getan hat. Auch wenn offen bleibt, warum es dort viel länger dauert als in USA, UK, Kanada oder Israel. Aber was genau sprach dagegen, sich seit spätestens Beginn der Testphase II auf Massenimpfungen logistisch vorzubereiten? Was sprach dagegen, von ALLEN im Rennen liegenden Impfstoffen eine ausreichende Menge bereits vorab zu bestellen? Was sprach dagegen, bereits vor dem endgültigen „Zugelassen“-Prüfsiegel die Logistik bereits abgeschlossen zu haben, um dann sofort mit den Impfungen zu beginnen? Und was kann so schwierig sein, innerhalb sagen wir einem Monat die Risikogruppe zu impfen? Wir führen jährlich Grippeimpfkampagnen durch, vor der Grippesaison 2019/2020 wurden 14 Millionen Impfdosen verabreicht. Und das ohne mobile Impfteams, ohne Impfzentren, einfach nur „Hausarzt impft“. Ist es ein Personalproblem? Wir haben doch angeblich jede Menge arbeitsfähige Menschen, die durch den Lockdown nur noch Däumchen drehen. Nein, es riecht alles nach demselben organisatorischen Versagen, wie wir es so oft erleben, wenn der Staat eine Sache in die Hand nimmt. Bei den Corona-Massentests hat sich das schon gezeigt, bei der Kontaktnachverfolgung, beim nicht besonders erfolgreichen Projekt „Schutz der Risikogruppe“, und natürlich beim Dauerbrenner „Berliner Flughafen“. So ist das, wenn komplette Unfähigkeit auf Behäbigkeit nebst Technikfeindlichkeit trifft.

Besonders die unzureichende Beschaffung treibt mich auf die Palme. Sowohl BioNTech/Pfizer als auch Moderna hätten deutlich mehr Impfdosen deutlich zügiger produzieren und liefern können, als es in der EU und Deutschland heute der Fall ist. Es ist in einer solchen Situation nicht angezeigt, aus falscher Sparsamkeit nur auf einige wenige Pferde zu setzen. Man setzt auf alle Pferde gleichzeitig, mit großzügig bemessenen Bestellungen. Kommen mehrere Pferde praktisch zeitgleich ins Ziel, verhökert man die übrigen Impfdosen in alle Welt. Oder verschenkt sie im Rahmen der Entwicklungshilfe – allemal ein sinnvollerer Gedanke als vieles, was hierzulande sonst so als Entwicklungshilfe betrieben wird.

Und nochmal zur EU: die Regularien hätten es erlaubt, im Rahmen der zweifellos bestehenden nationalen Krisenlage hier außerhalb des normalen EU-Rahmens zu agieren. Warum man es trotzdem bevorzugt hat, das typische europäische Kompromissspielchen mitzuspielen („lass‘ uns doch von diesem französischen Impfstoff auch noch ein paar hundert Millionen Dosen ordern, dafür von den am weitesten fortgeschrittenen Impfstoffen entsprechend weniger“) – auch das fällt unter „Politikversagen“. Und ist ein weiterer Sargnagel für die EU in ihrer jetzigen Form, die zum wiederholten Male ihre komplette Nutzlosigkeit bis Schädlichkeit unter Beweis stellt. Es ist eine Schönwetter-Union, doch leider ist seit Ende des kalten Krieges permanent schlechtes Wetter.

Aber zurück zum Impfstoff selbst. Jede Impfung ist zunächst mal eine Kosten-Nutzen-Abschätzung – wie groß ist das Risiko von Nebenwirkungen? Wie groß ist diese Wahrscheinlichkeit im Vergleich um Erkrankungsrisiko? Wie ist die Wirksamkeit des Impfstoffes einzuschätzen? Die Testphase III hat da für die mRNA-basierten Impfstoffe von BioNTech und Moderna vielversprechende Zahlen geliefert. Keine einzige seriöse Nebenwirkung wurde beobachtet, die Wirksamkeit entfaltet sich schon nach der ersten von zwei notwendigen Dosen, und liegt nach zwei Dosen jenseits der 95%. Auch wenn nicht in jedem Falle der Ausbruch der Krankheit verhindert werden kann, so scheint zumindest sicher zu sein, dass ein Ausbruch in solchen Fällen sehr viel weniger heftig wird.

Unklar ist im Moment noch, inwieweit die Impfung die Infektiosität eines Infizierten senkt. Die Frage ist: kommt es darauf wirklich an? Wenn ausreichend Menschen der Risikogruppe geimpft und damit größtenteils geschützt sind, ist das Hauptziel doch schon erreicht. Und aus rein logischen Überlegungen würde ich erwarten, dass wenn das Immunsystem den SARS-CoV-2-Erreger frühzeitiger und wirkungsvoller bekämpfen kann – und das ist ja schließlich das, was der Impfstoff bewirken soll – zumindest die Dauer, während der ein Infizierter selbst infektiös ist, deutlich sinkt. Jedenfalls wird man eine wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis sowieso nur „after the fact“ erlangen können – zur Entscheidung, ob man den Impfstoff einsetzt oder nicht, taugt dieser festgestellte Mangel an Erkenntnis sowieso nicht.

Bei den zu erwartenden Nebenwirkungen liegt die Sache ganz ähnlich. Die Testphase III ist ja recht breit angelegt, im Falle des BioNTech-Impfstoffes waren es über 40000 Teilnehmer, die Hälfte davon die Placebo-Kontrollgruppe. Ungefähr die Hälfte der Probanden waren aus der Risikogruppe ab 60 Jahren, inklusive Vorerkrankungen. Trotzdem traten keine dramatischen Nebenwirkungen auf, nur das „Übliche“ wie Kopfschmerzen, leichtes Fieber, Abgeschlagenheit oder Schmerzen an der Einstichstelle. Also nichts, was man nicht von einer gewöhnlichen Grippeimpfung schon kennt.

Logischerweise ersetzt – wie mindestens jeder Software-Entwickler weiß – kein noch so guter Test die Erfahrungen in der Breite, in der Praxis. Es wäre ein Wunder, wenn bei – sind wir mal optimistisch – 60 Millionen geimpften Menschen in Deutschland nicht mindestens ein paar signifikante Fälle von heftigen Nebenwirkungen auftreten würden. Aber nehmen wir als Benchmark mal eine Impfung der Vergangenheit, die als die unverträglichste Impfung der letzten 40 Jahre gilt: die Schweinegrippe-Impfung 2009, als sich im Nachhinein herausstellte, dass einer der drei in Europa zugelassenen Impfstoffe, „Pandemrix“ von GlaxoSmithKline, in Deutschland mit knapp 100 Verdachtsfällen von Narkolepsie in Verbindung gebracht wird. Die zusätzlichen Fälle von Narkolepsie (von unterschiedlichster Schwere) belaufen sich auf geschätzt 2-6 pro 100000 Pandemrix-Impfungen bei Kindern und Jugendlichen, und um 0,6-1 Fall bei Erwachsenen, und sind damit immer noch sehr klein gegenüber der Prävalenz von 28-50 pro 100000 Einwohner. Wie bei anderen Impfschäden gibt es auch hier den Verdacht, dass die Impfung in diesen seltenen Fällen sowohl durch Vorerkrankungen begünstigt waren als auch ganz ähnliche Krankheitsbilder hervorruft wie der Virus selbst, gegen den geimpft wird. Was ja auch logisch ist, soll ja der Impfstoff eine ähnliche Reaktion im Körper hervorrufen, sonst würde das Immunsystem ja gar nicht aktiv werden und könnte so auch nicht durch die Impfung trainiert werden.

Im Falle zu befürchtender Nebenwirkungen kann man jetzt das oben angeprangerte Politikversagen als Vorteil sehen: durch die Verzögerungen spielen die Menschen in den USA, in Kanada, in UK und in Israel die Vorhut beim Praxistest. Obwohl schon reichlich geimpft wurde, gibt es noch keine besorgniserregenden Meldungen von schwerwiegenden Nebenwirkungen. Auch an dieser Front ist es also eher entspannt.

Klar ist: das Thema Nebenwirkungen wird nun jahrelang eine Goldgrube für alle Horrornachrichtenmelder dieser Welt sein. Man sollte aber immer im Blick behalten, was die Alternative zur Impfung ist – Einschränkungen im Alltag, eine signifikante Anzahl von Todesfällen, ein belastetes Gesundheitssystem insbesondere im intensivmedizinischen Bereich, erhöhte Ausgaben bzw. geringere Steuereinnahmen wegen Erkrankungen. Ich halte es für ausgeschlossen, dass die Impfung in der Kosten-Nutzen-Abwägung gegenüber „keine Impfung, weiter wie 2020“ schlechter abschneidet. Das wird die Impfskeptiker aber nicht davon abhalten, jedwede Erkrankung, die irgendein Geimpfter auch Jahre später entwickelt, auf die Impfung zurückzuführen. Weil Ungeimpfte ja niemals erkranken. Auf diese Paranoiker-Festspiele darf man sich schon freuen.

Ein paar der üblichen Verdächtigen – Wodarg und Co., die schon immer passionierte Impfgegner waren, egal um welche Impfung es ging – haben ja auch wieder Pamphlete verfasst, die allerlei Hypothesen aufstellen, was denn dieses Mal bei genau dieser Impfung alles schiefgehen wird. Sagen wir es mal so: nachdem sie in der Vergangenheit noch nie recht hatten, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass die mit der Streuung einer Schrotflinte versehenen Befürchtungen auch nur im Ansatz wahr werden. „Unsubstanziiert“ und „weit hergeholt“ ist wohl noch das Freundlichste, was man über die diversen Behauptungen von „es droht Unfruchtbarkeit“ bis zu „unnütze, teure und hochriskante Gen-Manipulation“ sagen kann.

Besonders die Befürchtungen aufgrund der Tatsache, dass die Impstoffe von BioNTech und Moderna auf mRNA-Basis funktionieren – „Gentechnik ist immer riskant!“ dräut es da dem geübten Paniker – erweisen sich bei näherer Betrachtung als gegenstandslos. Ja, es handelt sich um den ersten zugelassenen Impfstoff auf mRNA-Basis für Menschen. Aber er wirkt wie jeder andere Impfstoff auch, die Technologie wird bereits bei Impfungen für Tiere verwendet, und die Theorie sagt eindeutig, dass ein solcher Impfstoff zielgenauer wirkt, weniger Nebenwirkungen hat und auch noch preiswerter und schneller zu produzieren ist. Letzteres wird gerne verschwiegen, weil damit das geliebte Narrativ der gierigen Pharmakonzerne nicht bedient werden kann.

Eine oft gehörte Befürchtung ist ja auch, dass diese neuen Corona-Impfstoffe unter dem Motto „Schnelligkeit statt Gründlichkeit“ entwickelt worden seien. Nun ist es zweifellos richtig, dass die Impfstoffe in Rekordzeit zur Verfügung stehen – etwas, was die größten Optimisten nicht zu hoffen gewagt hatten (unter anderem deshalb war zu Beginn der Pandemie ja auch die Strategie „Herdenimmunität mittels Durchseuchung“ in der Diskussion, bevor die dramatisch zu hohe IFR diesem Konzept Einhalt gebot). Aber: die durchgeführte Erprobung mit den drei Phasen lief genauso wie bei allen anderen Impfstoffen der Neuzeit. Diesmal hatte man aber mehrere Vorteile auf seiner Seite: etwas weniger Bürokratie bei der Forschungsförderung (und da können wir US-Präsident Trump dafür sehr sehr dankbar sein – ohne sein „Project Warp Speed“ wären wir vermutlich noch lange nicht so weit), eine massivparallele Entwicklung von zig Impfstoffkandidaten bei allen forschenden Pharma-Firmen und diversen innovativen Startups sowie zig Universitäten, dazu eine hohe Prävalenz des Virus in der Bevölkerung – so konnte man die Wirksamkeit des Impfstoffes sehr viel schneller feststellen, als bei sehr viel selteneren Krankheiten, wo man schon mal ein Jahrzehnt warten muss, bis eine ausreichende Anzahl von Probanden erkrankt.

Man muss sich vor Augen führen, woran viele gescheiterten Impfstoffentwicklungen der Vergangenheit krankten: die Krankheit war zu selten, die Viren waren zu mutationsfreudig, meist nur ein Pharmaunternehmen arbeitete mit eher verhaltener Kraft daran. Letzteres liegt daran, dass Impfungen als nicht besonders lukratives Feld gelten. Diesmal ist alles anders: alle arbeiten dran, alle mit voller Kraft, die Gewinnaussichten sind verlockend, und es geht zusätzlich um eine Menge Prestige. Es ist ein wenig wie Formel 1 – hochkompetitiv, die besten Köpfe arbeiten dran, der Wettbewerb sorgt für dramatischen Fortschritt.

Und wie steht es mit einer Impfpflicht? Wie schon bei der Diskussion um eine Masern-Impfpflicht finde ich das Thema schwierig. Die Abwägung zwischen persönlichem Entscheidungsrecht und gesamtgesellschaftlichem Nutzen ist ja Dauergast der gepflegten politischen Debatte. Im Moment überlegt die SPD gar, ins Vertragsrecht einzugreifen und zu verbieten, dass private Anbieter zwischen Geimpften und Nichtgeimpften unterscheiden dürfen. Das weckt den Widerstandgeist des Liberalen in mir, dem die Vertragsfreiheit heilig ist. Warum sollte z.B. eine Fluggesellschaft nicht damit werben dürfen, dass nur nach Impfnachweis eine Beförderung möglich ist? Das ist doch für den einen oder anderen eine wichtige Entscheidunsgrundlage für das Beförderungsrisiko. Genauso kann das Theater um die Ecke mit einem pandemieverhindernden leistungsfähigen Luftaustauschsystem hausieren gehen. Oder ein Restaurant mit dem besten Hygienekonzept. Transparenz schafft Wettbewerb, und kann zudem zu neuen Erkenntnissen führen. Wenn als Fallbeispiel viele Neuerkrankte vorher mit einer Fluggesellschaft geflogen sind, die keinen Impfnachweis voraussetzt, kann man das Risiko doch viel besser einschätzen.

Kommen wir zum Abschluss zur Impfstrategie. Da sind ja nun mehrere verschiedene Ausprägungen denkbar. In Deutschland macht man grob die Reihenfolge „extreme Risikogruppe, medizinisches Personal, systemrelevantes Personal, Risikogruppe, alle anderen“. Man könnte sich aber auch auf den Standpunkt stellen, zunächst das gesamtgesellschaftliche Risiko zu minimieren – also das medizinische Personal und das Pflegepersonal nebst den systemrelevanten Gruppen wie Feuerwehr, Polizei und andere Hilfskräfte zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, und danach diejenigen, die hauptsächlich das Virus verbreiten, also eher die jüngeren mit geringerem persönlichem Risiko. Solange aber nicht klar ist, dass eine Impfung nicht nur erheblichen persönlichen Nutzen hat, sondern auch die Weiterverbreitung des Virus stark reduziert, scheint das nicht die beste Strategie zu sein. Und wenn man es organisatorisch hinkriegen würde, die Risikogruppe nebst dem medizinischen Personal in einem Monat durchzuimpfen, müsste man sich auch um irgendwelche Optimierungsstrategien gar keinen Kopf machen.

Und was kostet das alles? Sagen wir es mal so: es liegt sehr viel näher an der trittinschen „Kugel Eis“ als unsere Energiewende. Und die Impfung wird einen dramatischen volkswirtschaftlichen Nutzen entfalten, während die Energiewende einfach nur als teures deutsches Hobby in die Weltgeschichte eingehen wird.

Um am Ende noch mit einer optimistischen Note zu schließen: es ist nicht gänzlich unwahrscheinlich, dass die Forschung rund um die Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 bzw. COVID-19 den Grundstein gelegt haben für zukünftige, sehr erfolgreiche Impfungen gegen allerhand nervige bis tödliche Viren, mit denen die Natur uns ständig auszurotten versucht. Neben dem neuen Bewusstsein für soziale Grundlagen wie „Hygiene“ die vermutlich positivste Auswirkung der Corona-Misere.

Corona-Erkenntnisse: Maßnahmen

Seit SARS-CoV-2 sein Unwesen treibt und weltweit mal mehr, mal weniger Maßnahmen härterer oder weicherer Natur von der Politik beschlossen und durchgesetzt werden, diskutiert man angeregt bis panisch über tatsächliche und vermutete Folgen dieser Maßnahmen und Einschränkungen. Und natürlich über deren Wirksamkeit bezüglich der Eindämmung der Pandemie. Und manchmal gar diskutiert man, ob es überhaupt sinnvoll ist die Pandemie eindämmen zu wollen.

Einigermaßen einig ist man sich beim Thema „Schutz der Risikogruppe“ – also zumindest bezüglich des prinzipiellen Ziels. Aber schon bei der Abgrenzung dieser Gruppe gehen die Meinungen auseinander. Als wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis kann man bisher sagen, dass das Risiko stark korreliert ist mit dem Alter. Ab 80 aufwärts ist man extrem gefährdet, ab 70 aufwärts auch schon ziemlich, ab 50 aufwärts kann man in den Zahlen schon ein deutlich steigendes Risiko erkennen. Und dann ist da noch das Thema „Vorerkrankungen“. Leider gehören auch die sogenannten „Zivilisationskrankheiten“ wie Diabetes, Bluthochdruck und Übergewicht zum Kreis der das Risiko signifikant erhöhenden Vorerkrankungen. Und letztlich werden diese im Alter auch deutlich häufiger. Je nach Rechnung landet man für Deutschland bei einer Risikogruppe, die 10 bis 40 Millionen Menschen umfasst. Und schon wird klar, warum man sich bezüglich zu ergreifender Maßnahmen zum Schutz dieser Gruppe so schwertut. Ganz abgesehen von der offenen Diskussion, welches Risiko einer schweren Erkrankung man in Abwägung gegen Güter wie wirtschaftliche Gesundheit und Freiheitsrechte einzutauschen gedenkt.

Eine Vielzahl von Maßnahmen wird derzeit diskutiert bzw. ist bereits umgesetzt oder wurde in der ersten Welle im März und April diesen Jahres umgesetzt und ist derzeit nicht mehr aktuell. Letztlich kann man jede Maßnahme nach ihren unterschiedlichen Dimensionen bewerten: Wie wirksam ist sie? Wie schädlich ist sie (z.B. für die Wirtschaft, für die menschliche Psyche)? Wie sehr schränkt sie die Freiheit ein, und für wie wertvoll hält man eine solche Freiheit? Wie groß ist die Gruppe der Betroffenen? Wie gut ist die Einhaltung kontrollierbar? Vor allem letzteres kommt in der Diskussion nach meiner Einschätzung oft zu kurz. Wenn uns diese Krise aber eines gelehrt hat, dann doch ganz sicher, dass der Erlass einer Regelung keinesfalls automatisch zu einer breiten Einhaltung derselben führt. Es muss kontrolliert werden und es müssen empfindliche Strafen drohen, sonst sind breite Teile der Bevölkerung nicht willens, sich an Regelungen zu halten. Dass das nicht überraschend kommt, kann man täglich im Straßenverkehr beobachten. Es hilft natürlich, wenn Regelungen erlassen werden, deren Nutzen klar auf der Hand liegt und möglichst gleichmäßig wirkt, also möglichst viele nur möglichst gering betroffen sind. Letzteres auch deshalb, weil erschreckend große Teile der Bevölkerung nicht über die Geisteshaltung von Kleinkindern nach dem Muster „der darf X, warum darf ich dann nicht Y?“ hinausgekommen sind.

Als gesetzt gelten die „AHA-Regeln“ – Abstand, Hygiene, Alltagsmaske (und man fragt sich direkt, warum es nicht die AHM-Regeln sind). Inzwischen ergänzt durch „Lüften“, nachdem man endlich zur Kenntnis genommen hat, dass auch Aerosole entscheidend zur Übertragung des SARS-CoV-2-Virus beitragen. Jedenfalls ist „AHAL“ ein Regelsatz, der extrem preiswert in der Umsetzung ist, und keinen überfordern sollte. Auch wenn verschiedentlich die Maskenpflicht hart angegangen wird, mit allerhand fragwürdigen Argumenten. Zur Information, falls es in Vergessenheit geraten ist: es gibt auch die Gurtpflicht und die Helmpflicht. Das sind dann wohl auch unzumutbare Einschränkungen der persönlichen Freiheit.

Wenig Kritik gibt es an der Maßnahme „Verbot von Großveranstaltungen“. Aber m.E. gibt es ein dramatisch unterschiedliches Infektionsrisiko bei Veranstaltung im Freien gegenüber Veranstaltungen in engen, schlecht belüfteten Räumen. Und so ist es mit Logik nicht zu erklären, warum Fußballspiele unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, während Gottesdienste stattfinden dürfen. Auch die Verbote diverser Demonstrationen unter freiem Himmel haben ein „Gschmäckle“, zumal ja gerne, wie zuletzt in Berlin, nur der einen Seite die Demonstration verboten wird, die Gegendemonstrationen hingegen zugelassen werden. Das kann schon den Eindruck erwecken, dass die Regierenden gerne die Opposition an der öffentlichkeitswirksamen Meinungsäußerung hindern würde. Das NetzDG geht ja letztlich in dieselbe Richtung, aber das soll hier nicht Thema sein.

Nun hat sich, wie man unschwer an den Infektionszahlen, den Belegungszahlen der Intensivstationen und den Todeszahlen ablesen kann, herausgestellt, dass diese Regeln bei weitem nicht ausreichen, um bei kühlerem Wetter die Pandemie unter Kontrolle zu halten. Während im Sommer die 7-Tage-Inzidenz in den Landkreisen im Großen und Ganzen so bei 10-50 positiven Tests pro 100000 Einwohnern lag, sind inzwischen einige Landkreise schon bei über 500 gelandet. Und entsprechend ist auch die Belastung des Gesundheitssystems inzwischen am Limit oder schon darüber hinaus. Und der „Lockdown Light“, der vor einigen Wochen beschlossen wurde, hat bisher die Infektionszahlen auf hohem Niveau stagnieren lassen, aber ein Sinken ist noch(?) nicht erkennbar.

Und obwohl das so ist, gibt es eine Art Dauerfeuer gegen die diversen Einschränkungen, die im Moment gelten. Gegen die Einschränkungen der privaten Kontakte, der privaten Feierlichkeiten, diverser Veranstaltungen, und natürlich die Schließung von Restaurants und Bars. Jede einzelne dieser Maßnahmen ist selbstverständlich diskutierbar – aber man sollte dann zumindest sagen, welche Maßnahmen denn stattdessen sowohl wirkungsvoller sind als auch weniger Freiheitseinschränkungen mit sich bringen.

Mein Vorschlag wäre, die Sache mit dem Schulunterricht nochmal kritisch zu beleuchten. Während nach jetzigem Wissensstand kleine Kinder bis etwa 10 Jahren kaum für das Infektionsgeschehen verantwortlich sind, sieht das bei älteren Kindern schon anders aus. Und es kann mir keiner erzählen, dass die Durchführung von Online-Unterricht das allergrößte Problem sein soll – zumindest nicht für die Schüler. Bei den Lehrern kann man sich das eher vorstellen, gibt es dort doch einige, die den neuen Medien nicht besonders aufgeschlossen gegenüberstehen. Jedenfalls ist Schulunterricht in vollen Klassenräumen ein mehrfaches Risiko: viele Menschen auf engem Raum, und sowohl davor als auch danach häufige Nutzen des öffentlichen Nahverkehrs, um auch ganz bestimmt für eine gleichmäßige Verbreitung der Virenlast zu sorgen. Und der öffentliche Nahverkehr ist sowieso überlastet, es würde die Infektionsgefahr dort stark reduzieren, wenn Schulkinder ihn nicht auch noch nutzen würden.

Nun sind die Argumente gegen Onlineunterricht schon häufig vorgebracht worden – meines Erachtens sind sie aber keineswegs stichhaltig. Ja, es gibt natürlich Kinder, die die technische Ausstattung nicht haben, um adäquat an Online-Unterricht teilzunehmen. Aber wie viele sind das pro Schulklasse? Die naheliegende Lösung ist doch, für genau diese Kinder eine Lösung zu finden. Z.B. dass der Lehrer weiterhin Präsenzunterricht im Klassenzimmer macht vor den zwei bis drei Schülern die betroffen sind, und der große Rest schaltet sich online dazu. Oder man sorgt einfach dafür, dass den Kindern eine entsprechende Ausstattung zur Verfügung steht – das ist allemal preiswerter, als hinterher mit einer höheren Zahl an Erkrankten umzugehen. Wie viele ungenutzte, ausrangierte Laptops gibt es wohl in der Wirtschaft? Wie schwer kann es sein, die einzusammeln und den bedürftigen Kindern zur Verfügung zu stellen? Warum nicht Privatpersonen fragen, inwieweit sie temporär mit tauglicher Hardware aushelfen können? Dass dieses Projekt nicht schon im März angegangen wurde, sondern man die wertvolle Zeit einfach verstreichen ließ und nun auf demselben einer ehemals führenden Industrienation unwürdigen Stand herumkrebst ist das eigentliche Versagen der Politik in dieser Krise. Ja, wer konnte auch schon ahnen, dass die Sommerferien zu Ende gehen.

Ein weiteres trauriges Kapitel ist das Thema „Kontaktnachverfolgung“, und ein Teil des Problems ist der Geburtsfehler „Datenschutz über alles“ der Corona-Warn-App. Ob es nun 15 oder 20 Millionen Nutzer der App sind, ist eigentlich auch egal. Es sollten ja mindestens 60 Millionen sein. Aber selbst, wenn die App so weit verbreitet wäre: sie würde kaum etwas nutzen. Denn es fehlt der App an entscheidenden Dingen: dem direkt sichtbaren Nutzen für den Nutzer, und der Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit der Einspeisung des Testergebnisses. Denn dieses liegt bekanntlich ausschließlich in der Hand des Nutzers der App und nicht etwa des Labors, das ja das Testergebnis zuerst kennt. Und auch den geringsten Aufwand hätte, das Testergebnis automatisiert ins System zu bringen.

Und so funktioniert „Kontaktnachverfolgung“, die eigentlich bequem und sicher und schnell durch die Corona-Warn-App funktionieren könnte bis heute fast ausschließlich über manuelle Bemühungen der Gesundheitsämter, einige wenige der bekannten Kontakte telefonisch zu erreichen, um ggf. den Gesundheitszustand abzufragen und weitere Tests zu veranlassen. Dass dieses Vorgehen nicht skaliert, sollte klar sein. Und es hat schon nicht funktioniert, als die oben erwähnte Inzidenz im niedrigen zweistelligen Bereich ist, und logischerweise funktioniert es jetzt inmitten der zweiten Welle immer noch nicht. Oder besser gesagt erst recht nicht.

Wie sollte die App stattdessen funktionieren? Im Sommer wäre es z.B. ein geeignetes Mittel gewesen, das Thema „Kontaktliste“ in Restaurants elektronisch und anonym zu lösen. Das wäre ein echter Vorteil für App-Nutzer gewesen. Ein von der App identifiziertes erhöhtes Risiko könnte automatisch das Recht auf einen Test bedeuten – App vorzeigen, Test machen, am selben Tag das Testergebnis bekommen, das automatisch in der App auftaucht, sobald das Laborergebnis vorliegt. Damit könnte man sogar den Test selbst anonymisieren – noch ein Vorteil für App-Nutzer, sofern sie Datenschutzjunkies sind. Und warum reicht ein Risiko, das die App verkündet, nicht automatisch beim Arbeitgeber, bei der Schule, bei der Universität als Krankheitsnachweis? Das würde doch geradezu einen Schub für die Entbürokratisierung bedeuten – kein sinnloses Warten beim Arzt auf die Krankschreibung, und damit automatisch auch noch eine Reduktion des Infektionsrisikos für alle Beteiligten.

Ein interessantes Schauspiel konnte ja auch im Sommer in der Urlaubszeit beobachtet werden. Wer glaubte, dass die zahlreichen Lippenbekenntnisse bezüglich der großen Solidarität der Menschen hierzulande tatsächlich substanzieller Natur seien, also sich in individuellem verantwortlichen Handeln niederschlagen würden, sah sich getäuscht. Denn nur die anderen sollten besser zu Hause bleiben, man selbst hatte aber jede Menge gute Gründe, ins Ausland zu reisen. Ob Familienbesuch oder Erholungsurlaub, die zahlreichen Infektionen durch die Reiserückkehrer verteilten den Virus gleichmäßig über die Republik und sorgten für das vielzitierte „diffuse Infektionsgeschehen“, das für Kontaktnachverfolgung natürlich Gift ist – die Infizierten waren vorwiegend jüngere, eher gesunde Menschen, und so konnte sich der Virus lustig erst mal ausbreiten, bis durch Erkrankungssymptome viel zu spät erkannt wurde, was Sache ist.

Am Ende bleibt die Erkenntnis, die der große schwäbische Philosoph Uli Keuler völlig zurecht als Grundhaltung vieler Menschen auf den Punkt brachte: „Und ich denke da auch gar nicht an mich sondern nur an Euch wenn ich sage, dass Opfer gebracht werden müssen.“

Der „Lockdown Light“ der letzten Wochen hat uns gezeigt, dass ein paar wenige Maßnahmen es nicht bringen, wenn die Infektionszahlen einmal außer Kontrolle geraden sind. Das kommt nicht überraschend, sondern war schon der Erkenntnisstand der ersten Welle – wer zu spät wirksame Maßnahmen ergreift, braucht tendenziell schärfere Maßnahmen über einen längeren Zeitraum, um das Infektionsgeschehen wieder unter Kontrolle zu bringen. Zynisch gesagt: gut, dass wir das jetzt noch ein weiteres Mal experimentell bestätigt haben. Lernen durch Schmerz.

Ich halte die m.E. sicheren Erkenntnisse nochmal fest: AHAL alleine reicht derzeit nicht, dazu ist der Virus zumindest in der kälteren Jahreszeit zu infektiös. Sobald die Prävalenz zu hoch ist, kann man die Risikogruppe nicht mehr adäquat schützen, denn sie ist viel zu groß und überall. Kontaktnachverfolgung funktioniert nur, wenn sie automatisiert und schnell erfolgt. Die Erfolgsgeschichte bei der Corona-Eindämmung in Japan, Südkorea, Norwegen, Finnland und Taiwan zeigt das – aber auch, dass „Insellage“ vorteilhaft ist. Entsprechende noninvasive Maßnahmen bei der Einreise (beispielsweise Fieberscanner) oder Antikörper-basierende Schnelltests, die zwar kein verlässliches Positiv-Ergebnis bringen aber relativ verlässlich eine aktive Infektion ausschließen können, wären aus meiner Sicht absolute Mindeststandards.

Besonders ermüdend finde ich die Diskussion über die diversen „Grenzen“. Ja, es ist natürlich völlig willkürlich, ob 50 die Grenze der Inzidenz ist oder 43 oder 58. Oder 86. In einer Lage, wo man nahezu ausschließlich qualitative Dinge feststellen kann und ungefähre Prognosen stellen kann, ist es doch lächerlich, gerade bei solchen Grenzwerten absolute Präzision und Nachvollziehbarkeit zu fordern. Und es ist letztlich auch willkürlich, ob man die Maßnahmen erst verschärft, wenn die Intensivstationen schon aus allen Nähten platzen, oder schon dann, wenn sich eine Überlastung am Horizont abzeichnet. Für einige Diskutanten scheint es besonders erstrebenswert zu sein, das Gesundheitssystem dauerhaft nahe des absoluten Limits zu betreiben. Hohe Auslastung war schließlich immer ein sinnvolles ökonomisches Ziel. Denn dass man einfach nur daran interessiert ist, den älteren Teil der Bevölkerung möglichst zügig zu eliminieren, daran will ich nicht glauben. Soviel Optimismus in Bezug auf die Geisteshaltung meiner Mitmenschen kann ich immerhin noch aufbringen. Auch wenn es mir manchmal schwerfällt, etwas anderes als „Menschenverachtung“ aus den Worten diverser Diskussionsbeiträge zu lesen. Nie war der Egoismus so vieler Leute so greifbar wie in dieser Krise.

Aktuelle Situation – Zahlen-Update

Fast ein Monat ist ins Land gegangen, seit ich mich über Deutschlands Sonderstellung bezüglich schwer Erkrankten und Toten durch COVID-19 gewundert habe. Zeit für ein Update, denn die Situation hat sich inzwischen geändert.

Gemessen an anderen europäischen Ländern ist die Zahl der positiven Tests in Deutschland noch auf verhältnismäßig überschaubarem, wenn auch fast stetig steigendem Niveau. Das 7-Tage-Mittel verkündet zuletzt knapp über 4000 Neuinfektionen am Tag. Und die Kurve des Anstiegs ist steiler geworden: noch am 3. Oktober waren es nur knapp über 2000.

Inzwischen schlägt das Infektionsgeschehen auch auf die Zahl der COVID-19-Erkrankten auf den Intensivstationen durch. Noch am 17.September waren dort 238 Patienten gemeldet, nicht viel höher als die rund 220 bis 230 die es praktisch über den ganzen August waren. Dann begann allerdings die Zahl stetig zu wachsen – heute 12.30h sind wir bei 655 Patienten, 329 davon werden invasiv beatmet.

Auch die Zahl der Toten ist inzwischen ansteigend: im Juli bis September lag die Zahl im konstant einstelligen Bereich, so zwischen 3 und 9 COVID-19-Toten täglich. Das 7-Tage-Mittel für gestern liegt bei 19, der Anstieg ist konstant zu sehen. Gestern wurden 31 COVID-19-Tote gemeldet.

Wie man der Presse entnehmen kann, sah man sich in Frankreich, Spanien, UK und den Niederlanden bereits gezwungen, mit scharfen Maßnahmen wie lokalen Lockdowns zu antworten, weil man die Lage als außer Kontrolle betrachtet. Sprich: dem Gesundheitssystem droht Überlastung, die Zahl der Toten steigt sprunghaft. Spanien meldete gestern 209 Tote, UK 137, Frankreich 104. Dagegen sieht es in Deutschland immer noch trotz des deutlichen Anstiegs zuletzt entspannt aus, aber die Erfahrung zeigt, dass wir uns vom Trend in anderen Ländern nicht abkoppeln können.

Schaut man sich die Deutschlandkarte der positiven Tests der letzten 7 Tage gerechnet auf 100000 Einwohner an, sieht man ein klares Muster: die Ballungsräume haben hohe Inzidenzen, ebenso Grenzregionen zu Belgien, den Niederlanden, Tschechien und Österreich. Weiße Flecken, wie sie im Juli und August noch häufig waren, als diverse Landkreise über Wochen gar keine Neuinfektionen gemeldet hatten, sucht man inzwischen vergebens. Aus epidemiologischer Sicht sind das keine guten Nachrichten: es bedeutet, dass die Eindämmungsstrategie, Hotspots bereits in der Entstehung zu erkennen und schnell auszumerzen, gescheitert ist.

Was folgt daraus? In meinem nächsten Beitrag will ich ein wenig über „Maßnahmen“ philosophieren. Das, was die Politik heute verkündet hat – das wird nach meiner Einschätzung nicht reichen. Und es wirkt auf mich hilflos.

Corona-Erkenntnisse: Aktuelle Situation

Anmerkung: eigentlich sollte der Artikel vor etwas mehr als einer Stunde publiziert werden. Also bitte alle relevanten Angaben wie „heute“ oder „gestern“ implizit anpassen.

Bevor weitere Betrachtungen zu bestimmten Themengebieten rund um die SARS-CoV-2-Pandemie und ihre Auswirkungen beleuchtet werden, will ich kurz einen Abstecher machen in eine genauere Analyse der derzeit aktuellen Zahlen rund um die Pandemie. Es gibt über die letzten Wochen einige Trends, die aber weltweit teilweise stark unterschiedliche Auswirkungen zeigen. Manches davon lässt mich ratlos zurück, insbesondere die Situation in Deutschland scheint immer mehr zum Sonderfall zu werden.

Zunächst zum Infektionsgeschehen. Logischerweise haben die diversen Lockerungen sowie bisher keiner erkennbaren relevanten Mutation des Virus dazu geführt, dass quasi überall die Infektionszahlen (aka „positive Testergebnisse auf SARS-CoV-2“) mehr oder weniger steil steigen. Wobei man bei der Interpretation der Zahlen immer berücksichtigen muss, inwiefern sich die Teststrategien der einzelnen Staaten über die Zeit entwickelt haben. Wenn nun in Deutschland pro Tag irgendwas um die 1500 laborbestätigte Neuinfektionen gemeldet werden, ist das in keinster Weise vergleichbar mit dem Beginn der Pandemie Mitte März, als ähnliche Größenordnungen am Start waren. Während nämlich Mitte März Tests fast ausschließlich bei starken Symptomen, und manchmal nicht mal dann (wenn z.B. häusliche Quarantäne ausreichte und keine Hospitalisierung erforderlich war), tatsächlich ein Test durchgeführt wurde (und konsequenterweise die Positivenquote der Tests bei knapp 10% lag), wird nun in der Breite getestet – Urlaubsrückkehrer (nicht nur aus Risikogebieten), wenn ein Krankenhausaufenthalt ansteht, bei leichten Symptomen, und die Routinetests für Arbeitnehmer in bestimmten Tätigkeitsfeldern (vor allem natürlich im Gesundheits- und Pflegebereich, aber sogar die Tests rund um die Fußball-Profiligen dürften in Deutschland einen nicht zu kleinen Anteil am Gesamttestgeschehen haben – man spricht von immerhin 35000 durchgeführten Tests von Saisonneustart bis Saisonende).

In KW12, also grober Stand „Beginn Pandemie“ und symptombezogene Testung, gab es deutschlandweit rund 350000 Tests und eine Positivenquote von knapp 7%. In KW37 – letzte Woche – waren es fast 1,2 Mio. Tests, und eine Positivenquote von lediglich knapp 0,9% (übrigens höher als zwischen KW27 und 29, als die Positivenquote um 0,6% schwankte und die Zahl der Tests bei vergleichweise niedrigen 0,5 Mio. lagen – soviel zur Hypothese „es gibt nur so hohe Infektionszahlen weil die Zahl der Tests gestiegen ist“). Die absoluten Zahlen an positiv Getesteten kann also in keinster Weise verglichen werden.

Die leider zu oft geführte Diskussion, ob das nun die „zweite Welle“ ist oder nicht, ist aus meiner Sicht komplett sinnfrei. Dazu müsste man erst mal spezifizieren, wann man denn von einer „Welle“ sprechen will. Wenn die Zahl der Infektionen einen Aufwärtstrend zeigt? Einen starken Aufwärtstrend? Wie stark denn genau? Oder doch nur die Zahl der symptomatisch Erkrankten berücksichtigen? Oder die Zahl der hospitalisierten Erkrankten? Oder nur die der schwer Erkrankten in Behandlung auf einer Intensivstation? Je nach Betrachtung hat man dann schon die achtzehnte Welle oder noch nicht mal die zweite. Wie ich sagte – sinnfrei.

Beobachtet man das DIVI-Intensivregister über die Zeit, stellt man außerdem fest, dass die Zahl der COVID-19-Patienten auf eher niedrigem Niveau verharrt. Der Höhepunkt der Erkrankungszahlen war um den 18.April – etwa 3 Wochen nach dem Höhepunkt der Infektionszahlen übrigens – und lag bei knapp 3000 Patienten in intensivmedizinischer Behandlung, von denen knapp 2200 invasiv beatmet wurden. Für heute 12.30h wurden aber lediglich 238 COVID-19-Erkrankte in intensivmedizinischer Behandlung, von denen 135 invasiv beatmet werden. Und diese Zahlen sind seit längerer Zeit stabil, d.h. die Erhöhung der Infektionszahlen von täglich 250 bis 500 zwischen Mai und Juli auf die oben genannten aktuell 1500 im 7-Tage-Mittel schlagen sich nicht auf die Anzahl der schweren Verläufe durch. Die Todeszahlen zeigen ein ähnliches Bild, hier liegt Deutschland bei 5-10 Todesfällen pro Tag seit Juni bis heute im 7-Tages-Mittel. Was übrigens immer noch im vermuteten Rahmen der IFR von SARS-CoV-2 um die 0,5% liegt.

Interessant daran ist, dass die Zahlen in Deutschland hier eine Sonderstellung einnehmen. Im europäischen Vergleich sieht man ja beispielsweise in Frankreich oder Spanien kräftig steigende Infektionszahlen, aber dort steigen auch die Todeszahlen mit der bekannten 3-wöchentlichen Verzögerung ebenfalls merklich an: Spanien meldet seit 7.August stetig teils deutlich über 4000 Neuinfektionen täglich, und von der einstmals niedrigen einstelligen Todeszahl pro Tag in Juni und Juli hat man jetzt zuletzt schon über 50 Tote pro Tag zu beklagen. Also ein IFR von tendenziell über 1%, ohne dass es zu einer Überlastung bei der medizinischen Versorgung gekommen wäre. Gestern lag die Zahl der Toten gar bei 239, aber die täglichen Zahlen in Spanien schwanken stark, so dass das als Einzelwert keine Aussagekraft hat. Man wird abwarten müssen, wie sich die Zahlen weiter entwickeln.

Beispiel Frankreich: seit Ende Juli im Aufwärtstrend bei den Neuinfektionen pro Tag von etwa 600 auf in den letzten Tagen über 8000. Hier waren die Todeszahlen nie auf ganz niedrigem Niveau wie in Spanien, eigentlich immer im zweistelligen Bereich. Aber man sieht in den letzten Tagen nun statt diesen 10 Toten pro Tag bereits um die 30. Nimmt man die übliche 3-Wochen-Verzögerung zwischen Infektionszahlanstieg und Todeszahlanstieg, muss man diese 30 mit den Infektionszahlen von Ende August ins Verhältnis setzen, die lagen bei etwa 4000 pro Tag. Also ein IFR von deutlich unter 1%, also eher der deutschen Situation ähnlich.

Beispiel Österreich: hier gibt es einen fleißigen Statistik-Blogger, der täglich die Situation detailliert berichtet (beispielsweise hier der heutige Bericht). Im Gegensatz zu Deutschland sieht man in Österreich einen deutlichen Anstieg bei der Hospitalisierungszahl und der Zahl der intensivmedizinisch behandelten Patienten.

Woran liegt es nun, dass beispielsweise die Zahlen in Österreich ein anderes Bild zeigen als in Deutschland? Es könnte mit der Altersstruktur der positiv Getesteten zusammenhängen und/oder einem vorsichtigeren Verhalten der Risikogruppe hierzulande oder mit feinen Unterschieden bei den ergriffenen Maßnahmen und/oder deren Befolgung. Österreich hatte zwischenzeitlich die Maskenpflicht ja wieder aufgehoben und auch diverse Beschränkungen bezüglich erlaubter Personenzahlen bei Feiern o.Ä. – man darf nicht vergessen, dass manche Maßnahmen (Abstand, Maskenpflicht, keine größeren Versammlungen in geschlossenen Räumen etc.) ja nicht unbedingt auf eine absolute Verhinderung der Ansteckung abzielen, sondern auf eine möglichst große Reduktion der Virenlast, was nach heutigem Kenntnisstand zu einer milderen Erkrankung führt.

Generell ist es bei einem kleinen Land wie Österreich aber schwierig, bei einer vermuteten IFR von 0,5% eine Bewegung bei der Zahl der Toten wirklich auszumachen, bei 1000 Neuinfizierten pro Tag ergibt das ja nur eine einstellige Zahl, da spielt Kollege Zufall logischerweise eine größere Rolle. Auch zu COVID-19-Hochzeiten lag das 7-Tage-Mittel in Österreich ja bei rund 20 Toten pro Tag, da ist statistisches Rauschen sicherlich nicht unerheblich.

Noch ein Wort zur oben behaupteten 3-Wochen-Verzögerung zwischen Anstieg der Neuinfektion und proportionalem Anstieg der Totenzahlen: zu Anfang der Pandemie war diese Verzögerung eher bei 1-2 Wochen. Ein begründeter Verdacht, warum dieser Zeitraum länger wurde, ist die größere Testintensität – man findet die Infizierten also, bevor sie Symptome entwickeln – und die verbesserte medizinische Behandlung aufgrund gewonnener Erkenntnisse und größerer Routine. Auch hier also entwickeln sich die Zahlen „dynamisch“, und man darf die Erkenntnisse von gestern nicht unbedingt für morgen als gegeben voraussetzen.

Corona-Erkenntnisse: Krisenvorsorge

Als schon früh – bevor der Lockdown beschlossen wurde – in den Supermärkten diverse Dinge knapp wurden, waren viele Menschen überrascht und zutiefst betroffen, dass solche Warenengpässe in einer hochentwickelten Industrienation überhaupt möglich sind. Andere Menschen (ich z.B.) hatten sich schon sehr viel früher mit der Möglichkeit beschäftigt, dass im Krisenfalle (wie auch immer der aussehen mag) auch Waren des täglichen Bedarfs möglicherweise nicht zu jedem Zeitpunkt ausreichend zur Verfügung stehen werden. Die Extremform dieser Menschen nennt sich „Prepper“, und die Skala des Vorbereitetseins ist nach oben offen. Zwischen „ich kaufe täglich im Supermarkt ein“ und „ich habe einen Bunker mit autarker Strom- und Wasserversorgung sowie Vorräte für mindestens 5 Jahre“ ist logischerweise ein weites Feld.

Wie kam es überhaupt zu den Engpässen bei so unterschiedlichen Produkten wie Toilettenpapier, Reis und Hefe? Die einfache Antwort der Volkswirte lautet „Verschiebung der Zeitpräferenz“. Logischerweise ist unser marktwirtschaftliches System auf die monetäre Optimierung des Normalfalls ausgelegt. Von der Produktion über die Lieferung bis zum Verkauf ist die moderne Logistik heute bestrebt, „just-in-time“ zu arbeiten – keine Überproduktion, keine Ineffizienzen, kein Wegwerfen von unverkäuflichen Überschüssen, keine teure Vorhaltung von freien Kapazitäten. Ein solches System ist natürlich in jedem einzelnen Schritt anfällig für plötzliche Nachfragespitzen, die nicht kurzfristig zu „normalen“ Preisen abgedeckt werden können. Zumal aufgrund der Regulierungsdichte hierzulande die Produktion vor allem von Lebensmitteln eine komplizierte Sache ist und deshalb Großunternehmen stark begünstigt, die dann aber in punkto Flexibilität typischerweise eher schlecht aufgestellt sind. Die Elastizität des Angebots ist eben begrenzt. Und ich meine festgestellt zu haben, dass der Supermarktkunde trotz Krise preissensibel blieb – das Regal mit dem Discount-Reis war leer, das mit dem Premium-Reis blieb voll.

Nun ist hierzulande ja nicht die Gesamtversorgung zusammengebrochen oder haben die Regale DDR-artig gewirkt. Supermärkte haben mit Rationierung gearbeitet (nur eine Packung Toilettenpapier pro Einkauf, nur drei Packungen Nudeln pro Person etc.), weit schärfer der sonst üblichen „haushaltsüblichen Mengen“ bei Sonderangeboten. Und wenn die erste Hysterie erst mal abgeklungen ist, normalisiert sich die Lage schnell wieder – bei unbegrenzt haltbaren Produkten wie Toilettenpapier, Nudeln oder Trockenhefe müssen ja die Notfallhorter nicht immer weiter horten, sondern sind erst mal für ein paar Jahre Nichtnachfrager für diese Produkte. So regelt sich das relativ kurzfristig aus, und wer auf größeren Lagerbeständen saß, hatte eine gute Gelegenheit, diese möglicherweise zu einem höheren Preis endlich loszuschlagen.

Und welche Krisenvorsorge habe ich persönlich nun realisiert, also wo auf der Skala des Vorbereitetseins befinde ich mich? Irgendwo in der Mitte würde ich sagen. Meine Vorratshaltung ist recht ausgefuchst und orientiert sich am Mindesthaltbarkeitsdatum und einem rollenden System des Austauschs (FIFO-Prinzip) sowie des langjährig ermittelten durchschnittlichen Bedarfs unter Berücksichtigung des zur Verfügung stehenden Stauraums. Das bedeutet reichlich Vorräte von gängigen Nahrungsmitteln wie Nudeln, Reis oder Kartoffeln, dazu Konserven und ein gut gefüllter Gefrierschrank mit quasi-frischen Dingen wie Gemüse von Spinat über Bohnen bis Blumenkohl. Dazu TK-Fisch vom pazifischen Pollack bis zum Lachs. Ebenfalls gut ausgestattet ist der Bereich „Getränke“ mit einem reichlichen Vorrat an Mineralwasser. Ebenfalls im Keller: Vorratsbrot aus der Dose, jahrelang haltbar. Weniger als Krisenvorsorge, sondern weil es wirklich lecker ist und Abwechslung ins Frühstück bringt. Mit entsprechender Rationierung würde ich vermutlich gut zwei bis drei Monate autark über die Runden kommen, ohne das Haus verlassen zu müssen. Klar, keine Luxusversorgung oder gesunde und vollwertige, abwechslungsreiche Ernährung, aber wir reden hier von lebensbedrohlicher Krise und nicht von Luxus. Meine Methode hat zudem den Vorteil, dass sie praktisch kostenneutral ist und keinen Zusatzaufwand bedeutet, wenn man das System mal verinnerlicht hat. Man opfert eben ein wenig Stauraum. Nach den Erfahrungen jetzt würde ich grob „1 Monat“ als Mindestvorratsziel empfehlen.

Wo ist der Schwachpunkt bei meiner Krisenvorsorge? Ganz klar: Stromversorgung (und das ist insofern ernstzunehmen, dass unsere Regierung ja mit der schlecht organisierten Energiewende soeben dabei ist, die Sicherheit unserer Stromversorgung aktiv zu sabotieren). Zwar habe ich Holzkohlegrill und Campinggaskocher am Start, aber die Heizung im Haus läuft nur mit Strom, und die Mengen an Kühl- und Gefriergut wären im Falle eines Falles nicht „in time“ verarbeitbar, was den Schwaben in mir schmerzen würde. Da herrscht also „Prinzip Hoffnung“, dass ein Stromausfall im Falle eines Falles doch nur eine Woche dauern würde, im Winter gerne etwas kürzer, sonst wird es unschön. Natürlich habe ich recht ausführlich recherchiert zu diesem Thema, aber ein eigener Notdiesel mit ausreichender Leistung ist sehr teuer, die Treibstoffbevorratung genehmigungstechnisch ein Alptraum und die dauernd anfallenden laufenden Wartungsaufgaben ebenfalls nicht zu unterschätzen und dementsprechend teuer. Und wenn man sich schon auf so einen extremen Krisenfall vorbereiten will, sollte man nicht außer Acht lassen, auch eine entsprechende Verteidigungsstrategie für sein krisensicheres Heim zu installieren. Im Falle eines Falles wird man wohl auf Schusswaffen nicht verzichten können – fällt der Strom wirklich länger und flächendeckend aus, wird die öffentliche Ordnung voraussichtlich zusammenbrechen. Recht des Stärkeren und so. Wenn man da in der Straße das einzige Haus mit Licht ist, will ich mir nicht ausmalen, was passieren wird.

Jedenfalls habe ich festgestellt, dass Menschen, die sich vor dieser Krise bereits mit Krisenvorsorge auseinandergesetzt haben und entsprechende Vorkehrungen getroffen hatten, bedeutend ruhiger schlafen konnten. Die anderen können heute nochmal drüber nachdenken, nachdem die Krise nun Gott sei Dank so groß nicht war.

Und jetzt, nachdem eindrucksvoll im Real-Life-Experiment namens Pandemie bewiesen wurde, dass selbst meine Schmalspurkrisenvorsorge offenbar deutlich professioneller war als sie unser Staat betrieben hat, schlafe ich wieder etwas unruhiger. Man stelle sich vor, wir hätten mal eine wirklich große Krise – keine seriöse Vorbereitung, kein professionelles Krisenmanagement, man mag sich die Folgen gar nicht ausmalen.

Corona-Erkenntnisse: Grundrechte

Nie zuvor in der mir erinnerlichen jüngeren Geschichte der Bundesrepublik wurde derart häufig auf „Grundrechte“ bzw. das Einschränken derselben verwiesen. In vielen Fällen habe ich festgestellt, dass die meisten Diskutanten dazu neigen, eine sehr enge Sicht auf „Grundrechte“ zu haben und gerne das ihnen für den Moment genehme Grundrecht (z.B. „Demonstrationsrecht“).

Sehr häufig, wenn Nichtjuristen über juristische Themen schreiben, kommt vorausschickend der halb erklärende, halb entschuldigende Teilsatz „ich bin kein Jurist, aber…“. Ich habe das auch häufig getan, aber nach längerem Nachdenken gibt es dafür eigentlich keinen Grund. Zwar halte ich die Juristerei für eines der Gebiete, die am wenigsten intuitiv sind (also dem gesunden Menschenverstand zugänglich oder der gesunden Logik des durchschnittlichen Naturwissenschaftlers), aber Jura ist ja kein Selbstzweck, sondern sollte ganz dringend zu denselben logischen Ergebnissen kommen wie eben der gesunde Menschenverstand. Das scheint selten so zu sein, aber was nicht ist kann ja noch werden. Da die Juristen ja auch in den meisten Diskussionen über Ihnen fachfremde Themen nicht mit dem Teilsatz „ich bin zwar kein Informatiker, aber…“ oder „ich bin zwar kein Energietechniker, aber…“ einleiten – bösartige Vermutung: weil sie der irrigen Meinung sind, dass technisches Fachwissen bei der Beurteilung einer Sache nur hinderlich sein kann – unterlasse ich das hier auch.

Das am häufigsten beklagte eingeschränkte Grundrecht ist nach meiner Beobachtung derzeit die Versammlungsfreiheit, oft „Demonstrationsrecht“ genannt. Daran kann man exemplarisch erklären, was denn die Schwierigkeit bei Grundrechten an sich ist. Es gibt nämlich (bis auf die unveräußerlichen Menschenrechte, abgebildet in den nicht änderbaren Grundgesetzartikeln wie „Die Würde des Menschen ist unantastbar“) keine uneingeschränkte, absolute Geltung eines jeden Grundrechts. Quasi jedes der Grundrechte in Deutschland kann über ein spezielles Gesetz eingeschränkt werden, beispielsweise wenn es ein Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen Grundrechten gibt. Dann muss – wie fast immer in der Juristerei – abgewogen werden zwischen den widerstreitenden Interessen. Und natürlich muss auch die immer gerne zitierte „Verhältnismäßigkeit“ beachtet werden. Und wie man leicht sehen kann, liegen eben „Abwägung“ und „Verhältnismäßigkeit“ stark im Auge des Betrachters.

Die gesetzliche Grundlage für diverse Einschränkungen zu Corona-Zeiten ist das Infektionsschutzgesetz. Es erlaubt weitreichende Einschränkungen beispielsweise der Unverletzlichkeit der Wohnung, der körperlichen Unversehrtheit, der Freizügigkeit, der informationellen Selbstbestimmung (kein im Grundgesetz verankertes Grundrecht, aber in der EU-Grundrechtecharta und in der DSGVO verankert) und des Versammlungsrechts. Selbstverständlich unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit – und damit sollte klar sein, dass es hier keine einfachen Wahrheiten gibt. Wer die Prämisse akzeptiert, dass SARS-CoV-2 ein gefährlicher Virus und COVID-19 eine gefährliche Erkrankung ist, dem sollte auch klar sein, dass alleine die Abwägung zwischen des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit im Falle einer Pandemie in direkter Konkurrenz zu vielen anderen Grundrechten steht. Je nachdem, wie man hier Gefahren und Risiken einschätzt, ergibt sich für die Abwägung der Verhältnismäßigkeit natürlich ein komplett anderes Bild.

Was die Versammlungsfreiheit angeht, ist die Gesetzeslage ja per se schon in „normalen“ Zeiten stark einschränkend. Zwang zur Anmeldung von – mindestens größeren – Demonstrationen, staatliche Stellen dürfen teilweise erheblich einschränkende Bedingungen für den Veranstalter formulieren und einfordern. Also alles nichts neues – in Stuttgart wurde ja gar mal eine von der AfD angemeldete Demonstration verboten, weil Randale von Gegendemonstranten befürchtet wurde.

Wer sich bezüglich der diversen Grundrechte und ihrer Einschränkungen und generell der Einschränkbarkeit im Detail informieren will, dem sei diese Webseite ans Herz gelegt (leider nicht in allen Teilen ganz aktuell, einige Teile sind noch Stand „vor der Corona-App“ und „vor Ende Lockdown“, und insgesamt ist auch ein wenig politische Schlagseite rauszulesen). Wer auswendig den Unterschied zwischen Gesetz, Verordnung, Anordnung und Allgemeinverfügung durchdeklinieren kann und über die unterschiedlich gewählten Wege eines jedes Bundeslandes in der Corona-Zeit referieren kann, ist davon freigestellt. Ebenso Menschen mit starken allergischen Reaktionen bei durchgängig genderneutralen Formulier*ungen.

Jedenfalls kann man festhalten, dass sich zwar recht viele Bürger über vermeintliche und tatsächliche Einschränkungen beschwert haben, aber relativ wenige haben tatsächlich die Instrumente des Rechtsstaates in Anspruch genommen, um gegen diese Einschränkungen zu klagen. Zu viele Klagen rankten sich nach meinem Geschmack um Details wie „reicht dafür eine Allgemeinverfügung oder muss es eine Verordnung sein“, ohne substanziell die Frage der Abwägung der Verhältnismäßigkeit zu berühren. Im vorliegenden Fall einer dynamisch verlaufenden Pandemie ist möglicherweise der ja doch einige Zeit in Anspruch nehmende Rechtsweg auch gar kein geeignetes Mittel – allerdings sieht man daran schon, dass die Einschränkungen ja größtenteils sehr kurzfristiger und temporärer Natur waren.

Als jemand, der mit dem Mittel der Demonstration als angeblicher Grundpfeiler der Demokratie sowieso nicht viel anfangen kann (gegenüber anderen Grundrechten halte ich es für eher nachrangig, für mich hat es den Geschmack „wer am lautesten schreit bekommt seinen Willen“), sehe ich die Frage nach Einschränkungen des Versammlungsrechts zu Pandemiezeiten sowieso eher entspannt. Der geschätzte Blogger Werwohlf hat dazu viele kluge Gedanken zu Buchstaben und Sätzen geformt. Ich stimme nahezu jedem einzelnen Satz nachdrücklich zu.

Zum Abschluss eine Denkaufgabe: wenn man sich erinnert, dass aufgrund von Überschreitungen eines frei erfundenen (also nicht solide wissenschaftlich belegten, sondern politisch beschlossenen) Grenzwertes für den Luftschadstoff „Stickstoffdioxid“ teilweise erhebliche Eingriffe in das Leben vieler vor Gericht durchgekämpft wurden, wenn man also diese gerichtlich festgestellte bzw. forcierte „Verhältnismäßigkeit“ als Benchmark nimmt, ist es dann nicht geradezu zwingend ebenso verhältnismäßig, bei einer Großdemonstration unter Pandemiebedingungen Abstand und Masken als Bedingungen aufzuerlegen?

Und noch ein nun wirklich abschließender Lesehinweis nach dem eigentlichen Abschluss: ein launiger Kommentar von Thomas Fischer (also aus berufenem Juristenmund) bei SPIEGEL Online zum Thema „Verhältnismäßigkeit“. Herr Fischer mit seiner Kolumne ist vermutlich der einzige vernünftige Grund, das Relotiusblatt zu verlinken.

Corona-Erkenntnisse: Wirtschaft

Viel wurde geschrieben über die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie. Für Deutschland, für Europa, für die Welt. Vieles von dem, was ich dazu gelesen habe, war doch eher eindimensional, oftmals stark fokussiert auf die wirtschaftlichen Auswirkungen diverser Anti-Pandemie-Maßnahmen wie dem berühmt-berüchtigten Lockdown. Damit läuft man Gefahr, zu viele möglicherweise entscheidende, aber schwer zu quantifizierende Faktoren schlicht zu ignorieren.

Zunächst zum Arbeitsmarkt. In den USA waren die Auswirkungen recht dramatisch, mit einem steilen Anstieg im März/April, aber schon danach einer leichten Erholung. Das ist typisch für eine eher marktwirtschaftlich organisierte Volkswirtschaft, wo „Hire & Fire“ eine Tugend und kein Problem darstellt. In Deutschland sieht die Sache naturgemäß anders aus. Durch das üppig genutzte und von der Politik kurzfristig sehr viel großzügiger gestaltete Instrument „Kurzarbeit“ entsteht natürlich eine große Trägheit im Arbeitsmarkt. Für Entlassungen gibt es zunächst wenig Anlass, die Arbeitnehmer bleiben in Lohn und Brot, die Finanzierung erfolgt über die Sozialversicherungsbeiträge. Ob das Instrument „Kurzarbeit“ langfristig eine gute Idee ist, ist schwer zu sagen. Mitnahmeeffekte gibt es sicher, und auch Unternehmen, die vernünftigerweise pleite gehen müssten, werden dadurch eher am Leben erhalten. Arbeitnehmer werden doch eher zum Verbleib an ihrer Arbeitsstätte ermuntert, obwohl sie anderswo als produktive Arbeitskräfte gewinnbringend eingesetzt werden könnten. Zudem ist fraglich, ob die Finanzierung über die AV-Beiträge wirklich gerecht(fertigt) ist, oder ob nicht eher eine Steuerfinanzierung besser wäre.

Jenseits der theoretischen Betrachtungen zur Sinnhaftigkeit des Instruments der Kurzarbeit (wer eine m.E. interessante Sichtweise auf die Dinge in epischer Breite nachlesen will, dem empfehle ich diesen Artikel zur Lektüre) hat das Statistische Bundesamt im Monat Juli weitgehend stabile Verhältnisse bei der Zahl der Erwerbstätigen festgestellt. Mit 44,5 Millionen liegt man hier etwas unter den Zahlen von Juli 2019 und 2018, aber über der Zahl von Juli 2017. Gegenüber dem Vormonat gibt es eine klare Steigerung, gegenüber dem Vorjahresmonat einen ebenso klaren Rückgang.

Weiter zum BIP. Der Einbruch im zweiten Quartal war ziemlich dramatisch: rund 10% ging es nach unten (je nachdem, ob verglichen mit dem Vorquartal oder zum Vorjahresquartal und diversen Bereinigungen bezüglich Jahreszeit und Inflation). Der Export bracht gar um 20% ein (und die Importe waren um 16% reduziert), ebenso die Investitionen in Anlagen wie Maschinen oder Fahrzeuge. Die privaten Konsumausgaben sanken um etwa 10%. Mal als Vergleichswert bezüglich des BIP: während der Finanzkrise 2009/2010 lag das schlimmste Quartal bei einem Rückgang von rund 5%.

Wie sieht die Lage aktuell aus? Druckfrisch vom Statistischen Bundesamt die Info, dass im Juli gegenüber dem Vorjahresmonat die Einzelhandelsumsätze real um 4,2% gestiegen sind. Das weist auf einen gewissen Nachholeffekt hin nach Ende des Lockdowns und der Zeit der extremen Vorsichtsmaßnahmen. Weiterhin ist der Internethandel der große Gewinner mit +15%. Die Gesamtstatistik Januar bis Juli sieht real gegenüber dem Vorjahreszeitraum ein Umsatzplus von 2,6%. Gewinner auch hier der Internethandel und der Lebensmittelhandel, Verlierer z.B. Textilien, Bekleidung, Schuhe. Interessant die Kategorie „Einzelhandel in Verkaufsräumen“, also einem mutmaßlich durch die Krise und vor allem dem Lockdown besonders betroffenen Bereich: +0,1% real. Im Großhandel gibt es bisher nur die Statistik Januar bis Juni, hier liegt man gegenüber dem Vorjahreszeitraum bei real +0,5%.

Ebenfalls interessant die Daten zu den Steuereinnahmen. Bei den Einnahmen aus der Umsatzsteuer sieht man beispielsweise einen Anstieg um 50% langfristig von 2008 vor der Finanzmarktkrise auf 2020 nach dem Lockdown. Selbst der Überkrisenmonat April erreichte noch 85% des Aufkommens von 2008. Der Juli liegt wieder auf demselben Niveau wie der Februar und über dem Januar. Und weit über Juli 2019. Man wird sehen, was die temporäre Mehrwertsteuersenkung hier bewirkt. Bei der Einkommensteuer im Juli sieht man ein ähnliches Niveau wie Juli 2019, aber ein deutlicher Rückgang in April, Mai und Juni. Januar bis März war auf Rekordniveau. Aufgrund von Nachzahlungen von zuvor gestundeten Steuern bedeutet das natürlich noch nicht, dass auch wieder Vorkrisenniveau erreicht ist, es wird spannend sein zu sehen wie sich das am Jahresende darstellt und in Summe ausgewirkt hat. Wird es noch eine Pleitewelle geben? Einen starken Anstieg der Arbeitslosigkeit? Anstieg oder Rückgang bei der Kurzarbeit? Setzt sich der „Rebound“ fort, der seit Mai/Juni beobachtet werden kann?

Das Statistische Bundesamt pflegt übrigens einen eigenen Corona-Bereich https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Corona/_inhalt.html mit diversen interessanten Statistiken, auch im Vergleich zur Finanzmarktkrise. Da gab es im Hauptkrisenjahr 2009 einen BIP-Rückgang von 5,7%, in 2010 und 2011 dann zwei starke Wachstumsjahre von jeweils 4%. Wird sich das 2021 und 2022 wiederholen? Das wird maßgeblich auf den weiteren Verlauf der Pandemie ankommen. Nach der Finanzmarktkrise erholte sich die Weltwirtschaft quasi synchron – das muss dieses Mal nicht so sein. Aber das ist Glaskugel, wenn es morgen einen Impfstoff oder ein wirksames Medikament gibt, wird sich die Sache ganz anders darstellen wie eine weiter köchelnde Pandemie bis zur Erreichung der Herdenimmunität vielleicht irgendwann in 2023.

Interessant im Vergleich Corona-Pandemie vs. Finanzkrise finde ich das Monitoring von Schlüsselbranchen wie Automobil, Elektro, Maschinenbau und Chemie. Haben wir überhaupt noch nennenswerte chemische Industrie in Deutschland? Ich bin überfragt. Jedenfalls gibt es hier die Fieberkurve. Man sieht in Corona-Zeiten einen steilen Absturz mit ebenso steiler Erholung (allerdings noch nicht bis zum Vorkrisenniveau, insbesondere bei Elektro und Maschinenbau). In der Finanzmarktkrise hingegen war die Talsohle nicht so tief, aber breiter. Aber es liegen bis jetzt nur Daten bis Juni zugrunde, da ist es noch zu früh von einer nachhaltigen Erholung zu sprechen, und bezüglich des weiteren Pandemieverlaufs: siehe oben. Die genannten Branchen sind ja größtenteils eher exportabhängig, da sind wir auf weltweite Erholung angewiesen. Da besteht doch eine massive Unsicherheit.

Kommen wir zu den Konjunkturmaßnahmen der Politik. Als besonders unsinnig will ich die weiter ausgebaute Förderung von Elektrofahrzeugen anprangern. Die Subvention hat inzwischen absurde Höhen erreicht, und trotzdem will der Käufer nicht so recht. Warum wohl? Vielleicht, weil im unteren bis mittleren Preissegment die attraktiven Angebote nach wie vor fehlen und die bezahlbaren E-Autos maximal Zweitwagencharakter haben? Seit der Subventionierung der sogenannten „Erneuerbaren Energien“ wurde staatlicherseits kein solcher Unsinn in diesem Ausmaß befeuert. Was ist von der temporären Mehrwertsteuer zu halten? Immerhin eine einigermaßen „soziale“ Maßnahme, aber natürlich mit erheblichen Umstellungskosten verbunden. Die Software, die unterm Jahr einfach mal so den Mehrwertsteuersatz ändern konnte, musste erst geschrieben werden. Wenn schon, dann hätte ich eine Reduzierung des niedrigen Satzes auf 0% forciert, das wäre eine reale Entlastung auch der ärmeren Bürger gewesen. Keine neue Idee von mir, ich hatte das anno 2017 hier thematisiert. Da vornehmlich Unternehmen betroffen sind und weniger die Arbeitnehmer und gar nicht die Menschen in den sozialen Sicherungssystemen sowie die Rentner (zumindest finanziell, als Risikogruppe natürlich schon), würde ich intuitiv eher für eine Subvention übers Finanzamt plädieren. Man hätte beispielsweise die Corona-Soforthilfen einfach basierend auf der letzten Steuererklärung direkt vom Finanzamt auszahlen lassen können. Am Ende des Jahres hätte man dann einfach über die Steuer wieder einen Ausgleich für doch nicht so stark betroffene Unternehmen quasi automatisch integriert gehabt.

Im Moment nicht so richtig aussagekräftig ist die Statistik zu den Insolvenzen. Die Insolvenzantragspflicht ist derzeit bis zum 30.9.2020 ausgesetzt (und diese Aussetzung wird voraussichtlich bis zum 31.12.2020 verlängert), das dicke Ende wird also vermutlich noch kommen. Im Moment ist die Zahl der Insolvenzen auf eher niedrigem Niveau. Würde mich wundern, wenn das so bleibt.

Böse auf die Füße fallen wird uns die kürzlich verhandelte EU-Subventionitis anderer Staaten, aka „Euro-Bonds durch die Hintertür“. Hier sollen Länder wie Deutschland, deren Bevölkerung deutlich ärmer ist als in anderen EU-Staaten, die anderen Staaten erneut aus dem Dreck ziehen. Das wird wieder nicht gelingen, denn die Probleme sind hausgemacht und struktureller Natur. Wann, wenn nicht in dieser Krisensituation könnten die Sorgenkinder von Griechenland bis Italien endlich mal ihrer Bevölkerung substanzielle Sparmaßnahmen zumuten? Solange Deutschland zahlt, wird das logischerweise nicht passieren. Man hat ja an Frankreich gesehen, wie schnell die Politik vor dem Druck der Straße kapituliert. Naja, die Briten haben es mit dem Brexit richtig gemacht und das sinkende Schiff EU verlassen. Britannia, Du hast es besser.

Sorge bereiten muss die Situation in den USA. Das Handling der Corona-Pandemie in einigen Bundesstaaten (überwiegend demokratisch regiert, aber das muss keine Kausalität sein) derart anfängermäßig, dass hier möglicherweise ein größerer Konjunktureinbruch bevorsteht. Natürlich wird in unseren Medien vorwiegend Präsident Trump die Schuld in die Schuhe geschoben, aber gerade die üblen Zahlen aus New York sind ausschließlich dort hausgemacht durch geradezu haarsträubende Fehlentscheidungen. Dazu die üblen Plünderungen und Brandschatzungen der Terroristen unter dem Deckmantel der BLM-Bewegung (oder ist das originär die BLM-Bewegung? Man weiß es nicht), das ist eine ungute Mischung. Wenn sich da einige bewaffnete Bürger diesen Plünderungen entgegenstellen, könnte das Pulverfass explodieren. Da schaut man doch lieber vom alten Kontinent aus zu.

Noch ein genauerer Blick auf die Sorgenkinder unter den Wirtschaftsbranchen. Gaststättengewerbe und vor allem natürlich die Hotellerie und die Tourismusbranche sind übel getroffen, wobei sich einige Gastwirte zunächst über Lieferdienst und dann über die Sommermonate durch Außengastronomie noch recht gut retten konnten. Aber wie soll das im Winter werden? Übel, vermute ich. Und dann die Event-Branche: wenn Großveranstaltungen weiterhin nicht stattfinden, ist das existenzbedrohend. Bei den Kinos hat das Sterben ja schon eingesetzt, wobei das ja schon seit vielen Jahren läuft. Der Ufa-Palast in Stuttgart wird ja beispielsweise nicht mehr wiedereröffnen – und das war einstmals mit 4200 Sitzplätzen eines der größten Multiplex-Kinos Deutschlands. Allerdings war der meines Wissens seit Eröffnung auch noch nie in der Gewinnzone. Beim Thema Kino verdient wohl nur Hollywood. Ganz übel sieht es auch bei den Fluggesellschaften aus – ob das den staatlichen Einstieg bei der Lufthansa unbedingt erforderlich machte? Ich habe keine Ahnung. Und auch ein Blick auf die Schausteller sei gestattet: durch die Absage aller größerer Festivitäten sitzen diese natürlich komplett auf dem Trockenen. Hier vermisse ich die Kreativität der Politik: warum nicht einfach abwechselnd auf einem geeigneten Platz in der Fußgängerzone einem Schausteller erlauben, sein Fahrgeschäft aufzustellen? Sowas müsste doch einfach möglich sein. Nach einer Woche darf dann der nächste. Kein Ersatz für den Cannstatter Wasen oder das Oktoberfest, aber besser als nix.

Und dann gibt es da noch den Bereich „Kultur“. Ebenfalls hart getroffen, im Moment zaghafte Versuche der Wiederbelebung unter Einhaltung der Abstandsregeln – ich glaube nicht, dass das lange gehen wird. Auf der anderen Seite ist der Kulturbetrieb sowieso größtenteils staatlich subventioniert, von daher passt dieser Bereich nicht so richtig zum Thema „Wirtschaft“. Aber die „Kulturschaffenden“ sind natürlich von einer solchen Krise besonders betroffen, weil sie üblicherweise keine in der Realwirtschaft nützlichen Fähigkeiten mitbringen. Als Erntehelfer hätten sie gut eingesetzt werden können, da wäre uns mancher Infektionsherd erspart geblieben.

A propos Sorgenkinder: bedenklich könnte sich die Lage der Banken entwickeln, da diese natürlich durch die Krise von einem erhöhten Verlustrisiko betroffen sind und zumindest die Schwergewichte in Deutschland ja eher auf tönernen Füßen stehen. Die Hoffnung, dass die Bafin hier rechtzeitig die Gefahr erkennt, ist seit dem Wirecard-Skandal ja eher nahe dem Gefrierpunkt.

Gibt es nun schon eine Antwort auf die Frage „was kostet ein Lockdown“? Eigentlich nicht. Wie viel des BIP-Rückgangs auf den tatsächlichen Lockdown in Deutschland zurückgeht, und wie viel auf die allgemeine weltweite Pandemiesituation, bleibt wohl noch für längere Zeit ungeklärt. Einbußen in einigen Branchen stehen Zugewinne in anderen Branchen gegenüber – die Tatsache, dass diesen Sommer nur begrenzt deutsches Geld in Spanien, Italien, Griechenland oder der Türkei ausgegeben wurde und stattdessen eher zu Hause für Urlaub und Anschaffungen auf den Kopf gehauen wurde, dürfte eher auf der Haben-Seite wirken. Ob die vorübergehende Kaufzurückhaltung zum Beispiel bei Autos nicht später nachgeholt wird, ist auch noch nicht absehbar. Um letztlich vernünftige Antworten zu bekommen, bräuchte man ein „Deutschland B“ ohne Lockdown zum Vergleich. Eine ungefähre Abschätzung erlauben die skandinavischen Länder, da diese in punkto Bevölkerungsdichte und Wirtschaftsstruktur einigermaßen vergleichbar sind, und deren Maßnahmen sich ja gravierend voneinander unterschieden haben. Auf der einen Seite Schweden, das ja mit eher sanften Maßnahmen gegen die Pandemie gesteuert hat, aber in ähnlichem Umfang wie Deutschland BIP-Einbußen hinzunehmen hatte. Auf der anderen Seite Norwegen und Finnland, die einen frühen, kurzen, harten Lockdown-Kurs gefahren sind und inzwischen weitgehend gelockert haben und die Sache mit Abstand, Masken und Kontaktnachverfolgung nebst harten Quarantäneregeln für Wiedereinreisende im Griff zu haben scheinen. Sowohl Norwegen als auch Finnland haben deutlich geringere Einbußen beim BIP zu verzeichnen. Die Finnen beispielsweise sind der Meinung, dass insbesondere die niedrige Erkrankungsrate für die geringen Einbußen verantwortlich ist – man musste kein Geld verschwenden, um vermeidbare Infektionen zu bekämpfen und teure Intensivbehandlung vieler Patienten wurden vermieden. Diese Sichtweise hat durchaus was für sich. Aber es gibt hier so viele Einflussfaktoren, dass wohl jeder hier zu seinem Lieblingsergebnis kommen kann.

Wer einen Gesamtüberblick über möglichst viele – wenn auch nicht besonders detaillierte – Statistiken von Destatis zur Corona-Krise sehen will, kann hier in einem schmalen 69-seitigen PDF-Dokument fündig werden (Stand 20. August). Nicht nur Statistiken zur wirtschaftlichen Lage, sondern auch zur Infektionslage und den Todeszahlen, teilweise bis auf die europäische Ebene. Aber auf großer Flughöhe.

Corona-Erkenntnisse: Politik

Auch im weiten Feld der Politik hat die Corona-Pandemie neue Erkenntnisse gebracht, Vermutungen bestätigt, Missstände ans Licht gebracht und althergebrachtes Wissen erneut validiert.

Neu war für mich, dass es ein für die Zukunft dringend zu beachtendes Signal aus Politikermund gibt. Wenn ein Minister sagt „Wir sind auf die Krise gut vorbereitet“, heißt es: sofort in den Supermarkt, und alles, was nicht schnell verderblich ist, vorratstechnisch für die nächsten 3 Monate aufstocken.

Neu war für mich auch, dass der Staat in seinem Kernbereich „Daseinsvorsorge“ quasi nackt dastand. Keine strategische Reserve für den Pandemie-Fall von notwendigen Dingen wie Schutzkleidung, keine Strukturen zur schnellen Reaktion auf solche Krisen, und das obwohl vor etwa 10 Jahren die Bundesregierung eine Studie in Auftrag gegeben hat zur Vorbereitung auf den Pandemie-Fall. Deren Ergebnisse dann einfach zu den Akten gelegt wurden.

Wer sich noch an Angela Merkels Worte in 2015 „man kann eine Grenze gar nicht schließen“ erinnert und diese schon immer für total dämlich gehalten hat (vor allem, nachdem Ungarn und Österreich damals vorgemacht haben, wie das doch geht), darf sich jetzt endgültig bestätigt fühlen. Denn plötzlich war es doch wieder möglich, die Grenze zu schließen und dort wirksame Kontrollen durchzuführen. Wer hätte das noch zu hoffen gewagt, dass der Staat im Kernbereich „Schutz der Staatsgrenzen“ doch nicht ganz unfähig ist.

Bemerkenswert war auch, dass man an einem Tag die Regierung von Polen und natürlich den Lieblingsgegner Donald Trump für die Grenzschließung verdammt hat, um dann einige Tage später es ihnen gleich zu tun. Ebenfalls bemerkenswert, wie lange man den Flugverkehr aus Hochrisikogebieten wie China und später Italien einfach aufrecht erhalten hat, ohne die Neuankömmlinge wenigstens ein paar Tage in Quarantäne zu stecken. Oder womöglich mit einem Fieberscanner zu arbeiten, wie es Taiwan und Südkorea getan haben. Wohl zu viel High-Tech für ein mittelalterliches Land wie Deutschland. Man muss ja noch froh sein, dass man nicht ein paar Schamanen am Flughafen positioniert hat, die eine Diagnose per Geisterbeschwörung gestellt hätten.

Altbekannt sind die merkwürdigen Strukturen diverser Verwaltungseinheiten vom Landkreis bis zur EU. Dort, wo man die Krise gut einschätzen kann, hat man nicht die Mittel, auf sie nennenswert zu reagieren. Da, wo man den großen Überblick hat, neigt man zu gleichmacherischen Regeln und alle-über-einen-Kamm-scheren. Und noch weiter oben, in diesem Falle bei der EU, ergeht man sich nur noch in absoluter Nutzlosigkeit. Die EU hatte weder in Sachen Krisenprävention noch in Sachen Krisenreaktion irgendetwas beitragen können. Jedes Mitgliedsland war auf sich gestellt, Nachbarschaftshilfe (wie z.B. freie Plätze auf deutschen Intensivstationen für französische Staatsbürger) wurden bilateral unter den Mitgliedsländern verhandelt. Nur als das ganz große Rad der Geldverteilung angeworfen wurde, da war die EU natürlich wieder steuernd dabei. Unterm Strich: das Subsidiaritätsprinzip, oft beschworen in Sonntagsreden der Politik, ist gar nirgendwo in Sicht.

Auch die nahezu vollständige Überflüssigkeit supranationaler Institutionen wie UN oder WHO wurde durch die Krise eindrucksvoll bestätigt. Was die WHO abgeliefert hat, war wirklich zum Heulen. Anfangs Verharmlosung der Situation, offenbar stark von China beeinflusst, wertvolle Erkenntnisse aus Taiwan und Südkorea zum Thema „Übertragbarkeit von Mensch zu Mensch“ ignorierend, mit widersprüchlichen Empfehlungen zu Verhaltensweisen – ein einziges Fiasko. Trump hat völlig recht, wenn er dem Laden den Finanzhahn zudreht. Die guten Dinge, die die WHO zum Beispiel mit den Impfkampagnen in ärmeren Ländern tut, kann man auch mit deutlich weniger Verwaltungsoverhead durch direkte Hilfen oder private Hilfsorganisationen erreichen.

Erneut hat sich in der Krise gezeigt, dass unser Bildungssystem hoffnungslos veraltet ist. Quer durch alle Schul- und Bildungsformen war man auf den Fall „kein Präsenzunterricht möglich“ nicht im Ansatz vorbereitet. Und das, obwohl die Möglichkeit auf Fernunterricht auszuweichen ja auch im Alltag – wenn man z.B. als Schüler krank zu Hause sitzt – sehr wertvoll wäre. Dass es an einigen Schulen und Universitäten mit dem Einrichten von Fernunterricht nebst Remote-Prüfungen dann trotzdem geklappt hat, ist meist der Initiative einzelner zu verdanken. Und natürlich der heutzutage verfügbaren Infrastruktur bezüglich leicht zugänglicher Konferenzsysteme, nur ausgebremst durch unsere teilweise vorsintflutliche Internet-Infrastruktur. Wer mal am falschen Ende einer zu langsamen DSL-Verbindung versucht hat an einer Videokonferenz mit Screen-Sharing teilzunehmen wird wissen, von was ich rede. Aber was will man erwarten in einem Land, das bezüglich „schnellem Internet“ ungefähr auf einer Stufe mit Albanien steht, und in dem „Breitbandausbau“ oft beschworen, aber selten durchgesetzt und angemessen unterstützt wird.

Überhaupt Digitalisierung. Besonders unsere diversen Behörden und auch das Gesundheitssystem haben einen absolut beklagenswerten Zustand diesbezüglich offenbart. Gut, keine Überraschung im Land der nutzlosen E-Persos, wo man den E-Post-Brief für eine Innovation hielt, wo man erst neulich die Grundlagen für elektronische Rechnungsstellung schuf und wo die Zulassung eines KfZ zum Behördenabenteuer wird. Oder die Ummeldung des Wohnsitzes. Oder die Genehmigung eines neuen Gartenzauns. Wer mal in Finnland oder in Litauen war, kann sich ungefähr vorstellen, wie viele Jahrzehnte Deutschland hier hinterherhinkt. Und daran erkennt man auch, dass das Grundproblem nicht der oft beklagte „Flickenteppich“ wegen unsere föderalen Systems ist – denn zentral auf Bundesebene klappt es ja auch nicht. Von der EU ganz zu schweigen.

Insofern kam es dann auch nicht überraschend, als Details bekannt wurden wie die Gesundheitsämter teilweise die Zahlen zu Neuinfektionen und Verstorbenen meldeten: per Fax. Niederschmetternd. Noch heute fällt häufig das aus meiner Sicht dringend zu nominierende Unwort des Jahres: „Meldeverzug“. Im IT-Zeitalter. Man fasst es nicht.

Kommen wir zum Knackpunkt: wie hat sich die deutsche Politik während der Corona-Krise bis dato angestellt? Da kann ich zu keinem positiven Urteil kommen. Die ersten Maßnahmen kamen viel zu spät, man hätte schon zum Zeitpunkt des Webasto-Falls die Flüge mindestens aus dem asiatischen Risikoraum komplett einstellen müssen, die Grenzkontrollen hochfahren und z.B. wie Taiwan und Südkorea Fieberscanner an den Flughäfen aufstellen müssen. Das Verbot für Großveranstaltungen kam auch reichlich spät, man erinnere sich an volle Fußballstadien bis kurz vor dem Lockdown. Die Schutzmaßnahmen für Pflegeeinrichtungen waren ebenfalls viel zu spät dran. Auch die Testkapazitäten wurden viel zu zögerlich ausgebaut, so dass man lange Zeit die Infektionsketten nur schlecht unterbrechen konnte, weil nur stark symptomatische Personen überhaupt getestet wurden. Dazu das Rumgeeiere bei den Masken, mit einer frühen Maskenpflicht in den öffentlichen Verkehrsmitteln wäre manche Infektion unterblieben.

Mit diesen schlechten Voraussetzungen war meines Erachtens der Lockdown dann nicht mehr ohne erhebliche Risiken zu vermeiden, auch wenn man über dessen Schärfe gerne streiten darf. Gemessen an den europäischen Nachbarn war unser Lockdown ja von der harmloseren Sorte und hauptsächlich von Empfehlungen, die keiner kontrollierte, getragen. Nun hat sich ja im Nachhinein herausgestellt, dass der viel zitierte R-Wert schon vor dem Lockdown unter die „magische“ Grenze von 1,0 gesunken war. Daraus aber abzuleiten, dass der Lockdown unnütz war, ist meines Erachtens falsch. Zum einen sank der R-Wert hauptsächlich deshalb, weil viele Firmen schon Anfang März die Mitarbeiter wo möglich ins Home-Office schickten – dadurch wurden viele Ansteckungswege im Keim erstickt. Und schon Mitte März waren die Restaurants, die Läden, die Bars und die Innenstädte weitgehend verwaist. Das hat sehr geholfen. Aber man darf nicht vergessen: die Prävalenz war zum Zeitpunkt des Lockdowns noch sehr hoch, und die Belegungen der Intensivstationen schoss immer noch nach oben. Das Divi-Intensivregister zeigt z.B. am 27.März noch unter 1000 Patienten auf den Intensivstationen der meldenden Krankenhäuser, der Höhepunkt lag aber erst Mitte April vor bei rund 2900, von denen 2100 beatmet werden mussten. Es sollte klar sein, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung für den Lockdown im März nicht absehbar sein konnte, dass die Zahl der Intensivpatienten so deutlich unter der hektisch neu geschaffenen Gesamtkapazität der Krankenhäuser vor allem in Bezug auf Beatmungsplätze bleiben würde. Hinterher ist man eben immer schlauer.

Allerdings muss man auch sagen, dass bei hoher Prävalenz ein R-Wert knapp unter 1 auch nicht wirklich ideal ist – damit die Infektionswelle entsprechend schnell abklingt, wäre irgendwas um 0,7 schon anzustreben.

Letztlich haben wir im europäischen Vergleich vermutlich gerade noch Glück gehabt, den Lockdown früh genug veranlasst zu haben, bevor es richtig bitter wird. Inzwischen sagen die Wirtschaftsexperten ja, dass der geringste Schaden für die Wirtschaft entsteht, wenn ein früher, harter, kurzer Lockdown stattfindet – bzw. der Lockdown aufgrund von frühen, sanfteren Maßnahmen gar nicht erst notwendig wird. Also wie in Taiwan, Südkorea, Norwegen und Finnland, den Corona-Musterländern. Kaum Erkrankte und Tote, kaum Wirtschaftseinbruch.

Corona-Erkenntnisse: Der Virus

Jeder Virus, der Pandemie-Potenzial hat, wird unweigerlich in seinen verschiedensten Parametern mit vergangenen Pandemien verglichen. Die berühmte „Spanische Grippe“ von 1918-1920 (Opferzahlen schwanken stark, irgendwo zwischen 20 und 50 Millionen Menschen weltweit), die Hongkong-Grippe Ende der 60er, und in den Nullerjahren die beiden Corona-Viren SARS-CoV und MERS-CoV. Und die meisten werden sich noch an die Schweinegrippe (H1N1, also derselbe Influenza-Stamm wie bei der Spanischen Grippe – 2009/2010) erinnern, einer der vielen Influenza-Untertypen. Dazu die „üblichen“ Grippewellen, die je nach Wirksamkeit der vorangehenden Impfkampagne mal mehr oder weniger tödlich ausfällt, die letzte schwere Welle hat Deutschland 2017/2018 abbekommen (hochgerechnet etwa 25000 Opfer, der Virus wurde bei etwa 1800 davon nachgewiesen).

Nicht zu vergessen HIV, angeblich mit etwa 36 Millionen Todesopfern seit 1980 weltweit.

Die Gefährlichkeit eines Virus wird durch verschiedenste Parameter bestimmt. Wie sind die Übertragungswege? Wie infektiös ist ein Träger des Virus, und wie lange? Wie lange ist ein Träger infektiös, bevor sich Symptome einstellen? Gibt es klare Symptome oder unspezifische Allerweltssymptome? Wie viele Infizierte sterben? Gibt es einen wirksamen Impfschutz? Wie hoch ist der Bevölkerungsanteil, der sich als immun erweist bzw. nur leichte Symptome entwickelt? Gibt es eine wirksame Behandlungsmethode? Gibt es wirksame antivirale Medikamente? Gibt es womöglich dauerhafte Spätschäden bei Genesenen? Gibt es infektiöse Träger, die symptomlos sind? Wie lange ist man nach der Genesung vor erneuter Infektion geschützt? Wie einfach kann eine Infektion sicher nachgewiesen werden? Wie einfach wird er von Mensch zu Mensch übertragen? Wie kann man sich wirksam vor Infektion schützen? Gibt es Menschen, die besonders viele andere Menschen infizieren („Superspreader“), und kann man diese einfach identifizieren? Gibt es einen einfachen Übertragungsweg von Mensch zu Mensch?

Nach dem jetzigen Stand der Wissenschaft muss man festhalten, dass SARS-CoV-2 zu den unangenehmeren Zeitgenossen seiner Zunft gehört. Die gängigen Übertragungswege sind hauptsächlich die Tröpfcheninfektion und wohl auch Übertragung über Aerosole (die ja letztlich sehr kleine Tröpfchen sind), die Virenlast die für eine Infektion ausreicht soll relativ niedrig sein. Schmierinfektionen (gängiger Übertragungsweg bei Grippeviren) spielen wohl eine eher geringe Rolle. Nach Ansteckung ist man relativ lange ohne erkennbare Symptome, es wird von mehreren Tagen berichtet, in denen man den Virus aber schon weitergeben kann, also selbst infektiös ist. Die Risikogruppe für einen schweren Verlauf sind Menschen mit Vorerkrankungen wie Schlaganfall, Herzinfarkt und Diabetes, aber auch Lungenschäden und starkes Übergewicht scheinen Risikofaktoren zu sein. Das Alter spielt eine wesentliche Rolle, da das Alter aber mit Vorerkrankungen korreliert, weiß man nicht genau, inwiefern „Alter“ für sich genommen ein Risikofaktor ist. Logischerweise ist auch ein schwaches Immunsystem ein Problem, wie bei jedem Virus. Eine Impfung existiert noch nicht, ob nennenswerte Teile der Bevölkerung bereits immun sind ist ungeklärt, angesichts der Infektionszahlen aber eher unwahrscheinlich, dass das in der Breite der Fall ist.

Die CFR („case fatality rate“ – also die Todesrate unter den symptomatisch Erkrankten) liegt irgendwo zwischen 2% und 5% bei der typischen Altersverteilung in den Industrienationen, wenn die medizinische Versorgung optimal ist. In Deutschland liegt die CFR derzeit bei etwa 4%, Tendenz sinkend (was vermutlich mit den im Schnitt deutlich jüngeren Infizierten zu tun hat, aber genau weiß man das natürlich nicht). Und dann gibt es noch die IFR („infection fatality rate“), ein Wert, der durch verschiedene Untersuchungen weltweit abgeschätzt wurde auf 0,4% bis 1%. Während bei der CFR normalerweise nur sicher infizierte mit Symptomen und dem typischen Krankheitsbild gezählt werden, wird die IFR über Antikörper-Feldstudien bestimmt und damit auch symptomfreie Virusträger erfasst. Die Heinsberg-Studie von Prof. Streeck war eine solche und kam auf eine IFR von rund 0,4%.

Die Infektiosität, die mit R0 bezeichnet wird („attack rate“ oder „transmissibility“, der deutsche Begriff aus der Infektionsepidemiologie ist „Basisreproduktionszahl“), ist die Zahl, wieviele andere Menschen von einem Infizierten im Durchschnitt angesteckt werden, und zwar für den Fall, dass keine Maßnahmen zur Unterbindung der Weiterverbreitung getroffen werden. Die Abschätzungen schwanken hier enorm, zwischen 1,4 und 4,0. Eine ziemliche Spanne. Aber es gibt hier natürlich auch zig Einflussfaktoren, die je nach Situation stark schwanken – beispielsweise die Bevölkerungsdichte. Und letztlich ist es ja auch im Verlauf einer Pandemie keine Konstante, sondern dynamischen Schwankungen unterworfen.

Vergleicht man nun SARS-CoV-2 mit einem „gewöhnlichen“ Influenzavirus, so ergeben sich viele Gründe, warum man SARS-CoV-2 als gefährlicher einstufen muss:

  • infektiöser, vor allem wegen der einfachen Übertragung per Tröpfchen und Aerosolen
  • tödlicher (sehr viel größere CFR und IFR)
  • höhere Wahrscheinlichkeit für Spätschäden, weil das ganze Organsystem betroffen ist und nicht z.B. „nur“ die Lunge
  • ungewöhnlich schwere Organschäden, bevor der Infizierte überhaupt Symptome bemerkt
  • Symptome setzen erst spät ein (lange Inkubationszeit) und sind oft unspezifisch
  • viele asymptomatische, aber trotzdem infektiöse Träger des Virus
  • praktisch keine Vorimmunität in der Bevölkerung, keine Impfung verfügbar
  • tendenziell größere Risikogruppe
  • längere Hospitalisierungszeit, vor allem intensivmedizinisch
  • größerer Anteil zu Behandelnder im Krankenhaus
  • größerer Anteil zu Behandelnder auf der Intensivstation

Man könnte sagen, dass SARS-CoV-2 aus Virus-Sicht quasi einen „Sweet Spot“ getroffen hat – lange nicht so tödlich wie Ebola, d.h. es bleibt genügend Zeit, um sich von Mensch zu Mensch zu verbreiten. Vor allem relativ lange unauffällig, so dass schon eine weite Verbreitung (in diesem Falle: weltweit) möglich ist, bevor wirksame Eindämmungsmaßnahmen getroffen werden können. Und für eine Verbreitung von Mensch zu Mensch einen guten Übertragungsweg gefunden. Dazu offenbar nicht so locker vom normalen Immunsystem bekämpfbar, d.h. der infizierte Mensch bleibt auch recht lange infektiös.

Um wieviel gefährlicher ist nun SARS-CoV-2 gegenüber einer schweren Grippewelle wie z.B. 2018/2019, als man mit dem Impfstoff gehörig daneben lag? Tja, das ist schwer zu sagen, extrem viele Faktoren spielen hier zusammen. Wenn man sich mal auf Deutschland beschränkt, müsste man wohl sagen, dass SARS-CoV-2 mit allen durchgeführten Maßnahmen etwa um Faktor 5 tödlicher ist als eine Grippewelle, die ganz ohne Maßnahmen „durchgelaufen“ ist (und von deren Gefährlichkeit man eigentlich erst hinterher, als man die Übersterblichkeitsstatistik angeschaut hat, recht überrascht war).

Welchen Faktor man ansetzen muss, wenn das Gesundheitssystem, also insbesondere die Intensivstationen, überlastet sind und/oder Maßnahmen zur Eindämmung zu spät oder nur halbherzig ergriffen werden, das steht in den Sternen. Eine Antwort wie „50“ wäre nach meiner Einschätzung nicht zu hoch gegriffen. Die Zahlen aus USA, UK, Spanien, Italien, Schweden, Belgien und Frankreich sprechen da eine eindeutige Sprache.

Wie dem auch sei: jeder, der behauptet, es handele sich bei SARS-CoV-2 um eine „gewöhnliche Grippe“, liegt nach derzeitiger Faktenlage komplett und völlig daneben. Ja, es sind beides Viren. Und man sollte seinen Körper möglichst gut auf eine mögliche Infektion vorbereiten (also das Immunsystem stärken – das fängt bei der Kontrolle des Vitamin-D-Spiegels an und hört bei der gesunden Ernährung nebst ausreichend Bewegung an der frischen Luft noch lange nicht auf), und man sollte sich von Situationen fernhalten, wo größere Infektionswahrscheinlichkeit droht. Selbst bei geringfügigen Situationen sollte man seine Mitmenschen vor Infektion schützen. Und damit enden die Gemeinsamkeiten: SARS-CoV-2 spielt bezüglich der Gefährlichkeit in einer völlig anderen Liga.

Corona-Erkenntnisse: Prolog

Seit mindestens 6 Monaten hält der Virus SARS-CoV-2 und die daraus resultierende Erkrankung COVID-19 – umgangssprachlich beides als „Corona“ bezeichnet – sowohl die Republik als auch den Rest der Welt in Atem.

Viel wurde schon darüber geschrieben, auch jede Menge Unsinn. Da man jeder Krise ja auch was Gutes abgewinnen soll, werde ich versuchen, meine gesammelten Erkenntnisse zu diesem Themenkomplex in verschiedenen hoffentlich zeitlich eng aufeinanderfolgenden Blog-Posts zum Besten zu geben. Erkenntnisgewinn zu den Themen Politik, Wirtschaft, der Virus und die Erkrankung selbst, Epidemiologie und Virologie aus Laiensicht, Grundrechte und Verbote, Wissenschaft, Medien, Beobachtungen zur Gesellschaft an sich – da sollte für jeden was dabei sein. Ich verspreche in jedem Post eine Menge Kopfschütteln und Unverständnis unterzubringen, und ich bin mir sicher, allein aufgrund der unglaublich polarisierten Meinungslage eben solches auch beim Leser hervorzurufen.

Ich hoffe, meine Motivation und Freizeit reichen aus, um jeden Tag einen Beitrag zu veröffentlichen, zu jeweils einem Themengebiet.

Vielleicht habe ich mich am Ende auch zu einer endgültigen Entscheidung bezüglich „das Virus“ vs. „der Virus“ durchgerungen. Angeblich neigen sowohl der Lateiner als auch der Fachmann zu „das Virus“, aber ich bin beides nicht.

Die Statistik sagt mir auch, dass dieses mein 100. Blog-Beitrag ist. Naja. Runde Zahlen im Dezimalsystem – wer würde dem schon besondere Bedeutung zumessen.