Corona-Erkenntnisse: Impfen
Nachdem die EU – wie immer als Letzter in der Welt – einen Impfstoff offiziell zugelassen hat, den hierzulande von BioNTech (dümmste Camel-Case-Schreibweise seit nVidia, die inzwischen auf NVIDIA bestehen) entwickelten und in Zusammenarbeit mit dem Pharma-Riesen Pfizer getesteten, produzierten und verteilten mRNA-basierten „BNT162b2“, wird nun seit letztem Sonntag auch in Deutschland gegen SARS-CoV-2 geimpft.
Zeit, sich über das Impfthema ein paar Gedanken zu machen. Wer sich für die diversen Impfstoffe im Detail interessiert, dem will ich einen Artikel bei heise Online von c’t-Prozessorgeflüster-Legende Andreas Stiller ans Herz legen.
Wenn man im Detail hinschaut, fällt mir als erstes das Wort „Politikversagen“ ein. Es ist ja eine Sache, eine Behörde sehr gründlich die Ergebnisse der bei Impfstoffzulassungen üblichen Testphasen I, II und III prüfen zu lassen, wie es die EMA getan hat. Auch wenn offen bleibt, warum es dort viel länger dauert als in USA, UK, Kanada oder Israel. Aber was genau sprach dagegen, sich seit spätestens Beginn der Testphase II auf Massenimpfungen logistisch vorzubereiten? Was sprach dagegen, von ALLEN im Rennen liegenden Impfstoffen eine ausreichende Menge bereits vorab zu bestellen? Was sprach dagegen, bereits vor dem endgültigen „Zugelassen“-Prüfsiegel die Logistik bereits abgeschlossen zu haben, um dann sofort mit den Impfungen zu beginnen? Und was kann so schwierig sein, innerhalb sagen wir einem Monat die Risikogruppe zu impfen? Wir führen jährlich Grippeimpfkampagnen durch, vor der Grippesaison 2019/2020 wurden 14 Millionen Impfdosen verabreicht. Und das ohne mobile Impfteams, ohne Impfzentren, einfach nur „Hausarzt impft“. Ist es ein Personalproblem? Wir haben doch angeblich jede Menge arbeitsfähige Menschen, die durch den Lockdown nur noch Däumchen drehen. Nein, es riecht alles nach demselben organisatorischen Versagen, wie wir es so oft erleben, wenn der Staat eine Sache in die Hand nimmt. Bei den Corona-Massentests hat sich das schon gezeigt, bei der Kontaktnachverfolgung, beim nicht besonders erfolgreichen Projekt „Schutz der Risikogruppe“, und natürlich beim Dauerbrenner „Berliner Flughafen“. So ist das, wenn komplette Unfähigkeit auf Behäbigkeit nebst Technikfeindlichkeit trifft.
Besonders die unzureichende Beschaffung treibt mich auf die Palme. Sowohl BioNTech/Pfizer als auch Moderna hätten deutlich mehr Impfdosen deutlich zügiger produzieren und liefern können, als es in der EU und Deutschland heute der Fall ist. Es ist in einer solchen Situation nicht angezeigt, aus falscher Sparsamkeit nur auf einige wenige Pferde zu setzen. Man setzt auf alle Pferde gleichzeitig, mit großzügig bemessenen Bestellungen. Kommen mehrere Pferde praktisch zeitgleich ins Ziel, verhökert man die übrigen Impfdosen in alle Welt. Oder verschenkt sie im Rahmen der Entwicklungshilfe – allemal ein sinnvollerer Gedanke als vieles, was hierzulande sonst so als Entwicklungshilfe betrieben wird.
Und nochmal zur EU: die Regularien hätten es erlaubt, im Rahmen der zweifellos bestehenden nationalen Krisenlage hier außerhalb des normalen EU-Rahmens zu agieren. Warum man es trotzdem bevorzugt hat, das typische europäische Kompromissspielchen mitzuspielen („lass‘ uns doch von diesem französischen Impfstoff auch noch ein paar hundert Millionen Dosen ordern, dafür von den am weitesten fortgeschrittenen Impfstoffen entsprechend weniger“) – auch das fällt unter „Politikversagen“. Und ist ein weiterer Sargnagel für die EU in ihrer jetzigen Form, die zum wiederholten Male ihre komplette Nutzlosigkeit bis Schädlichkeit unter Beweis stellt. Es ist eine Schönwetter-Union, doch leider ist seit Ende des kalten Krieges permanent schlechtes Wetter.
Aber zurück zum Impfstoff selbst. Jede Impfung ist zunächst mal eine Kosten-Nutzen-Abschätzung – wie groß ist das Risiko von Nebenwirkungen? Wie groß ist diese Wahrscheinlichkeit im Vergleich um Erkrankungsrisiko? Wie ist die Wirksamkeit des Impfstoffes einzuschätzen? Die Testphase III hat da für die mRNA-basierten Impfstoffe von BioNTech und Moderna vielversprechende Zahlen geliefert. Keine einzige seriöse Nebenwirkung wurde beobachtet, die Wirksamkeit entfaltet sich schon nach der ersten von zwei notwendigen Dosen, und liegt nach zwei Dosen jenseits der 95%. Auch wenn nicht in jedem Falle der Ausbruch der Krankheit verhindert werden kann, so scheint zumindest sicher zu sein, dass ein Ausbruch in solchen Fällen sehr viel weniger heftig wird.
Unklar ist im Moment noch, inwieweit die Impfung die Infektiosität eines Infizierten senkt. Die Frage ist: kommt es darauf wirklich an? Wenn ausreichend Menschen der Risikogruppe geimpft und damit größtenteils geschützt sind, ist das Hauptziel doch schon erreicht. Und aus rein logischen Überlegungen würde ich erwarten, dass wenn das Immunsystem den SARS-CoV-2-Erreger frühzeitiger und wirkungsvoller bekämpfen kann – und das ist ja schließlich das, was der Impfstoff bewirken soll – zumindest die Dauer, während der ein Infizierter selbst infektiös ist, deutlich sinkt. Jedenfalls wird man eine wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis sowieso nur „after the fact“ erlangen können – zur Entscheidung, ob man den Impfstoff einsetzt oder nicht, taugt dieser festgestellte Mangel an Erkenntnis sowieso nicht.
Bei den zu erwartenden Nebenwirkungen liegt die Sache ganz ähnlich. Die Testphase III ist ja recht breit angelegt, im Falle des BioNTech-Impfstoffes waren es über 40000 Teilnehmer, die Hälfte davon die Placebo-Kontrollgruppe. Ungefähr die Hälfte der Probanden waren aus der Risikogruppe ab 60 Jahren, inklusive Vorerkrankungen. Trotzdem traten keine dramatischen Nebenwirkungen auf, nur das „Übliche“ wie Kopfschmerzen, leichtes Fieber, Abgeschlagenheit oder Schmerzen an der Einstichstelle. Also nichts, was man nicht von einer gewöhnlichen Grippeimpfung schon kennt.
Logischerweise ersetzt – wie mindestens jeder Software-Entwickler weiß – kein noch so guter Test die Erfahrungen in der Breite, in der Praxis. Es wäre ein Wunder, wenn bei – sind wir mal optimistisch – 60 Millionen geimpften Menschen in Deutschland nicht mindestens ein paar signifikante Fälle von heftigen Nebenwirkungen auftreten würden. Aber nehmen wir als Benchmark mal eine Impfung der Vergangenheit, die als die unverträglichste Impfung der letzten 40 Jahre gilt: die Schweinegrippe-Impfung 2009, als sich im Nachhinein herausstellte, dass einer der drei in Europa zugelassenen Impfstoffe, „Pandemrix“ von GlaxoSmithKline, in Deutschland mit knapp 100 Verdachtsfällen von Narkolepsie in Verbindung gebracht wird. Die zusätzlichen Fälle von Narkolepsie (von unterschiedlichster Schwere) belaufen sich auf geschätzt 2-6 pro 100000 Pandemrix-Impfungen bei Kindern und Jugendlichen, und um 0,6-1 Fall bei Erwachsenen, und sind damit immer noch sehr klein gegenüber der Prävalenz von 28-50 pro 100000 Einwohner. Wie bei anderen Impfschäden gibt es auch hier den Verdacht, dass die Impfung in diesen seltenen Fällen sowohl durch Vorerkrankungen begünstigt waren als auch ganz ähnliche Krankheitsbilder hervorruft wie der Virus selbst, gegen den geimpft wird. Was ja auch logisch ist, soll ja der Impfstoff eine ähnliche Reaktion im Körper hervorrufen, sonst würde das Immunsystem ja gar nicht aktiv werden und könnte so auch nicht durch die Impfung trainiert werden.
Im Falle zu befürchtender Nebenwirkungen kann man jetzt das oben angeprangerte Politikversagen als Vorteil sehen: durch die Verzögerungen spielen die Menschen in den USA, in Kanada, in UK und in Israel die Vorhut beim Praxistest. Obwohl schon reichlich geimpft wurde, gibt es noch keine besorgniserregenden Meldungen von schwerwiegenden Nebenwirkungen. Auch an dieser Front ist es also eher entspannt.
Klar ist: das Thema Nebenwirkungen wird nun jahrelang eine Goldgrube für alle Horrornachrichtenmelder dieser Welt sein. Man sollte aber immer im Blick behalten, was die Alternative zur Impfung ist – Einschränkungen im Alltag, eine signifikante Anzahl von Todesfällen, ein belastetes Gesundheitssystem insbesondere im intensivmedizinischen Bereich, erhöhte Ausgaben bzw. geringere Steuereinnahmen wegen Erkrankungen. Ich halte es für ausgeschlossen, dass die Impfung in der Kosten-Nutzen-Abwägung gegenüber „keine Impfung, weiter wie 2020“ schlechter abschneidet. Das wird die Impfskeptiker aber nicht davon abhalten, jedwede Erkrankung, die irgendein Geimpfter auch Jahre später entwickelt, auf die Impfung zurückzuführen. Weil Ungeimpfte ja niemals erkranken. Auf diese Paranoiker-Festspiele darf man sich schon freuen.
Ein paar der üblichen Verdächtigen – Wodarg und Co., die schon immer passionierte Impfgegner waren, egal um welche Impfung es ging – haben ja auch wieder Pamphlete verfasst, die allerlei Hypothesen aufstellen, was denn dieses Mal bei genau dieser Impfung alles schiefgehen wird. Sagen wir es mal so: nachdem sie in der Vergangenheit noch nie recht hatten, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass die mit der Streuung einer Schrotflinte versehenen Befürchtungen auch nur im Ansatz wahr werden. „Unsubstanziiert“ und „weit hergeholt“ ist wohl noch das Freundlichste, was man über die diversen Behauptungen von „es droht Unfruchtbarkeit“ bis zu „unnütze, teure und hochriskante Gen-Manipulation“ sagen kann.
Besonders die Befürchtungen aufgrund der Tatsache, dass die Impstoffe von BioNTech und Moderna auf mRNA-Basis funktionieren – „Gentechnik ist immer riskant!“ dräut es da dem geübten Paniker – erweisen sich bei näherer Betrachtung als gegenstandslos. Ja, es handelt sich um den ersten zugelassenen Impfstoff auf mRNA-Basis für Menschen. Aber er wirkt wie jeder andere Impfstoff auch, die Technologie wird bereits bei Impfungen für Tiere verwendet, und die Theorie sagt eindeutig, dass ein solcher Impfstoff zielgenauer wirkt, weniger Nebenwirkungen hat und auch noch preiswerter und schneller zu produzieren ist. Letzteres wird gerne verschwiegen, weil damit das geliebte Narrativ der gierigen Pharmakonzerne nicht bedient werden kann.
Eine oft gehörte Befürchtung ist ja auch, dass diese neuen Corona-Impfstoffe unter dem Motto „Schnelligkeit statt Gründlichkeit“ entwickelt worden seien. Nun ist es zweifellos richtig, dass die Impfstoffe in Rekordzeit zur Verfügung stehen – etwas, was die größten Optimisten nicht zu hoffen gewagt hatten (unter anderem deshalb war zu Beginn der Pandemie ja auch die Strategie „Herdenimmunität mittels Durchseuchung“ in der Diskussion, bevor die dramatisch zu hohe IFR diesem Konzept Einhalt gebot). Aber: die durchgeführte Erprobung mit den drei Phasen lief genauso wie bei allen anderen Impfstoffen der Neuzeit. Diesmal hatte man aber mehrere Vorteile auf seiner Seite: etwas weniger Bürokratie bei der Forschungsförderung (und da können wir US-Präsident Trump dafür sehr sehr dankbar sein – ohne sein „Project Warp Speed“ wären wir vermutlich noch lange nicht so weit), eine massivparallele Entwicklung von zig Impfstoffkandidaten bei allen forschenden Pharma-Firmen und diversen innovativen Startups sowie zig Universitäten, dazu eine hohe Prävalenz des Virus in der Bevölkerung – so konnte man die Wirksamkeit des Impfstoffes sehr viel schneller feststellen, als bei sehr viel selteneren Krankheiten, wo man schon mal ein Jahrzehnt warten muss, bis eine ausreichende Anzahl von Probanden erkrankt.
Man muss sich vor Augen führen, woran viele gescheiterten Impfstoffentwicklungen der Vergangenheit krankten: die Krankheit war zu selten, die Viren waren zu mutationsfreudig, meist nur ein Pharmaunternehmen arbeitete mit eher verhaltener Kraft daran. Letzteres liegt daran, dass Impfungen als nicht besonders lukratives Feld gelten. Diesmal ist alles anders: alle arbeiten dran, alle mit voller Kraft, die Gewinnaussichten sind verlockend, und es geht zusätzlich um eine Menge Prestige. Es ist ein wenig wie Formel 1 – hochkompetitiv, die besten Köpfe arbeiten dran, der Wettbewerb sorgt für dramatischen Fortschritt.
Und wie steht es mit einer Impfpflicht? Wie schon bei der Diskussion um eine Masern-Impfpflicht finde ich das Thema schwierig. Die Abwägung zwischen persönlichem Entscheidungsrecht und gesamtgesellschaftlichem Nutzen ist ja Dauergast der gepflegten politischen Debatte. Im Moment überlegt die SPD gar, ins Vertragsrecht einzugreifen und zu verbieten, dass private Anbieter zwischen Geimpften und Nichtgeimpften unterscheiden dürfen. Das weckt den Widerstandgeist des Liberalen in mir, dem die Vertragsfreiheit heilig ist. Warum sollte z.B. eine Fluggesellschaft nicht damit werben dürfen, dass nur nach Impfnachweis eine Beförderung möglich ist? Das ist doch für den einen oder anderen eine wichtige Entscheidunsgrundlage für das Beförderungsrisiko. Genauso kann das Theater um die Ecke mit einem pandemieverhindernden leistungsfähigen Luftaustauschsystem hausieren gehen. Oder ein Restaurant mit dem besten Hygienekonzept. Transparenz schafft Wettbewerb, und kann zudem zu neuen Erkenntnissen führen. Wenn als Fallbeispiel viele Neuerkrankte vorher mit einer Fluggesellschaft geflogen sind, die keinen Impfnachweis voraussetzt, kann man das Risiko doch viel besser einschätzen.
Kommen wir zum Abschluss zur Impfstrategie. Da sind ja nun mehrere verschiedene Ausprägungen denkbar. In Deutschland macht man grob die Reihenfolge „extreme Risikogruppe, medizinisches Personal, systemrelevantes Personal, Risikogruppe, alle anderen“. Man könnte sich aber auch auf den Standpunkt stellen, zunächst das gesamtgesellschaftliche Risiko zu minimieren – also das medizinische Personal und das Pflegepersonal nebst den systemrelevanten Gruppen wie Feuerwehr, Polizei und andere Hilfskräfte zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, und danach diejenigen, die hauptsächlich das Virus verbreiten, also eher die jüngeren mit geringerem persönlichem Risiko. Solange aber nicht klar ist, dass eine Impfung nicht nur erheblichen persönlichen Nutzen hat, sondern auch die Weiterverbreitung des Virus stark reduziert, scheint das nicht die beste Strategie zu sein. Und wenn man es organisatorisch hinkriegen würde, die Risikogruppe nebst dem medizinischen Personal in einem Monat durchzuimpfen, müsste man sich auch um irgendwelche Optimierungsstrategien gar keinen Kopf machen.
Und was kostet das alles? Sagen wir es mal so: es liegt sehr viel näher an der trittinschen „Kugel Eis“ als unsere Energiewende. Und die Impfung wird einen dramatischen volkswirtschaftlichen Nutzen entfalten, während die Energiewende einfach nur als teures deutsches Hobby in die Weltgeschichte eingehen wird.
Um am Ende noch mit einer optimistischen Note zu schließen: es ist nicht gänzlich unwahrscheinlich, dass die Forschung rund um die Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 bzw. COVID-19 den Grundstein gelegt haben für zukünftige, sehr erfolgreiche Impfungen gegen allerhand nervige bis tödliche Viren, mit denen die Natur uns ständig auszurotten versucht. Neben dem neuen Bewusstsein für soziale Grundlagen wie „Hygiene“ die vermutlich positivste Auswirkung der Corona-Misere.