Das soll jetzt keine juristische Abhandlung sein. Denn besonders bei dieser Frage herrscht wie so oft die Willkür der „Verhältnismäßigkeit“, die weit auslegbar ist, und zwar in jede Richtung, gerne je nach Tagesform. In der Vergangenheit gab es in der Bundesrepublik schon die allgemeine Impfpflicht gegen Pocken, das wurde sogar explizit vom Verfassungsgericht als verfassungskonform eingestuft. Es gibt nun ungefähr vierhundertdrölfzig Gründe, warum eine COVID-19-Schutzimpfung genau dasselbe oder etwas völlig anderes ist – kurz: es ist eine müßige Diskussion, die kein Ende finden wird. Gäbe es hypothetisch gesprochen eine COVID-19-Impfpflicht, und das Verfassungsgericht würde dessen Verfassungskonformität bestätigen, würde die Diskussion trotzdem weitergeführt werden.
Es schwirren sehr merkwürdige bis zweifelhafte Argumente bei dieser Diskussion durch den Raum. Beispielsweise „die Politik hat versprochen, dass es keine Impfpflicht geben wird“. Die Politik hat schon viel versprochen – „mit uns keine Mehrwertsteuererhöhung“, oder „die Rente ist sicher“, oder „die EZB wird derselbe Schutzanker gegen Inflation sein wie die Bundesbank“. Wer’s geglaubt hat, dem ist wirklich nicht zu helfen.
Auch ein Klassiker: weil es keine sterile Impfung ist, darf es keine Impfpflicht geben. Ein schwachsinniges Argument, denn Grund für die Impfung ist ja die Kontrolle der Auswirkungen von SARS-CoV-2 bzw. COVID-19 auf die Gesellschaft, und da ist die Impfung nach allen vorliegenden Daten hervorragend geeignet – schwere Verläufe, die im Krankenhaus oder gar auf der Intensivstation landen, werden zu einem seltenen Ereignis, und damit droht die Gefahr der Überlastung des Gesundheitswesens nicht mehr länger.
Ein anderer Klassiker: aufgrund des verfassungsmäßig garantierten Rechts auf körperliche Unversehrtheit ist eine Impfung Privatsache. Das wäre nur richtig, wenn eine schwere COVID-19-Erkrankung nicht den Rest der Gesellschaft signifikant betreffen und letztlich gefährden würde. Solange man Ungeimpften nicht die Behandlung in den Krankenhäusern der Republik verweigert, landen wir wieder bei der Abwägungsfrage der Verhältnismäßigkeit, die letztlich auf eine Risikobewertung der Impfung hinausläuft. Nach dem weltgrößten Impffeldversuch in 2021 kann man mit einiger Sicherheit sagen, dass das Risiko einer Impfung extrem gering ist, das Risiko einer Erkrankung hingegen nicht. Nimmt der Staat seine aus dem Grundgesetz abgeleiteten Schutzpflichten ernst, muss er handeln – ob eine Impfpflicht hier das richtige Mittel ist, darf trotzdem diskutiert werden.
Selten dumm sind Einlassungen von Politikern, die eine Impfpflicht wollen, aber keine Gefängnisstrafe bei Verstößen. Irgendeine Sanktion muss es ja geben für solche Pflichtverstöße, wenn die Impfpflicht nicht nur auf dem Papier existieren soll – und typischerweise bedient man sich hier der Geldstrafe als Mittel. Wenn einer nicht zahlt, kommt automatisch das Mittel der Beugehaft zur Anwendung. Soll man nun daraus schließen, dass diese Politikerforderung stillschweigend ebenfalls fordert, keine Sanktion für Verstöße gegen die Impfpflicht vorzusehen? Oder vielleicht nur „Ermahnung und gutes Zureden“? Hört sich in der Tat sehr dumm an.
Eine für mich offene Frage ist, ob es mildere Mittel gibt als die Impfpflicht. Wenn das Ziel ist, das Gesundheitssystem vor der Überlastung zu schützen, kann es ja nur darum gehen, die Zahl der Infektionen in der Gruppe der Ungeimpften – möglicherweise altersabhängig, weil mit dem Alter bekanntlich das Risiko eines schweren Verlaufs stark ansteigt – unter Kontrolle zu halten. Da die Impfung keine sterile Impfung ist, muss man diese Menschen also durch andere Maßnahmen vor Infektion schützen, also z.B. von nicht lebensnotwendigem Kontakt mit der Bevölkerung ausschließen – klingt nicht nur unschön, ist es auch. Die Option „isoliert sterben lassen“ halte ich für ethisch nicht vertretbar, und ich weiß nicht mal, ob man durch eine Willenserklärung wie eine Patientenverfügung sowas überhaupt juristisch eindeutig formulieren könnte – jedenfalls glaube ich nicht, dass eine entsprechende gesetzliche Regelung grundgesetzkonform ausgestaltet werden könnte. Ist aber nur so ein Gefühl. Jedenfalls scheint mir bei den Alternativen die Impfpflicht ein vergleichsweise sehr mildes Mittel zu sein.
Möglicherweise wird die Diskussion durch die Omikron-Variante auch stark abgekürzt. Die Wahrscheinlichkeit, dass Mitte des Jahres noch eine relevante Anzahl von Menschen weder geimpft noch genesen noch verstorben ist, schätze ich als relativ gering ein. Muss man die Zahl der Infektionen und die Infektiösität nicht mehr per Impfung oben halten (und dass das geht, wenn auch nur für einen begrenzten Zeitraum, kann man anhand der israelischen Daten sehr gut nachvollziehen), sondern nur noch den schweren Verlauf verhindern, wird es vermutlich ausreichen, jährlich so gegen Oktober die Risikogruppe zu impfen – damit hätte COVID-19 den langen Weg von der Pandemie zur influenzaähnlichen endemischen Situation zurückgelegt. Es wird spannend sein, ob Länder, die die Impfpflicht schon für die nächste Zukunft angekündigt haben, davon wieder abrücken werden.
Bin ich nun für oder gegen eine Impfpflicht? Als Erzliberaler natürlich dagegen. Allerdings bin ich auch ein Verfechter der „wer bestellt, zahlt“-Theorie und würde stattdessen eine Haftpflichtversicherung für Ungeimpfte bevorzugen, um die entstehenden Mehrkosten bei notwendiger Behandlung und eventuellen Spätschäden eigenverantwortlich abzudecken. Natürlich mit hoher Selbstbeteiligung, denn man kann das Risiko ja selbst stark beeinflussen. Wie alle liberalen Konzepte wird aber auch dieses nicht umgesetzt werden.
Abschließend: eine Gesellschaft, die so risikoavers ist wie unsere und sich für Gurtpflicht, Helmpflicht, Rauchverbot, Kernenergieausstieg und Diesel-Fahrverbote entscheidet, muss sich nach meinem Dafürhalten logisch zwingend auch für eine Impfpflicht entscheiden.