Seit vielen Jahren gönne ich mir zwei Wochen im Jahr eine “Auszeit”. Da entspanne ich auf den Kanaren und fülle meinen Tag mit dem Lesen aktueller Presseerzeugnisse, vulgo Tageszeitungen. Früher war die Begrenzung das, was die örtlichen Supermärkte an “International Press” am Start hatten – und man musste verrückt genug sein, mit der Zeitung von gestern leben zu können. Seit Amazon uns den Kindle geschenkt hat, ist das Gott sei Dank Geschichte, und ich genieße tagesaktuell meine favorisierte Auswahl: Die FAZ, die WELT und die NZZ. Über die Jahre erlaubt das auch interessante Rückschlüsse auf die Qualität und die politische Richtung, in die sich eine Zeitung redaktionell bewegt.
Einen gewissen Verfall der Qualität (neben einem gewissen Linksdrift – ob es da einen Zusammenhang gibt?) kann man über die Jahre durchaus feststellen. Insbesondere das Feuilleton der FAZ ist wirklich ein Schreckenskabinett geworden. Aber der Politik- und Wirtschaftsteil war doch noch von gewisser Qualität, und entgegen Zeitungen wie SZ (nicht umsonst auch unter den Namen “Neues Süddeutschland” oder “Prantl-Prawda” bekannt), Frankfurter Rundschau oder taz wird auch durchaus noch zwischen Bericht und Kommentar unterschieden.
Was ich heute allerdings in der WELT lesendurfte (oder musste?), bewirbt sich nachdrücklich für den Preis “Tiefpunkt des Qualitätsjournalismus”. Ein gewisser Hans Rühle – von 1982 bis 1988 Leiter des Planungsstabes im Verteidigungsministerium – philosophiert hier über die nuklearen Ambitionen der Türkei. Seine Indizienkette beruht aber leider auf konsequenter Physikabstinenz und Vermeidung logischer Schlussfolgerungen. Wieder einmal wird der Plutoniumteufel an die Wand gemalt. Leider in Verbindung mit Leichtwasserreaktoren (in diesem Falle russischer Bauart). Wenn das der Plan der Türkei ist, an Kernwaffen zu kommen, wurden sie sehr schlecht beraten. Denn jeder Idiot weiß, dass abgebrannte Brennelemente aus Leichtwasserreaktoren eine denkbar schlechte Quelle für waffenfähiges Plutonium sind – das hat mit dem nicht verhinderbaren, unangenehm hohen Anteil an Plutonium-240 zu tun; eigentlich Physik-Basiswissen. Deshalb gibt es auch keinen Kernwaffenstaat auf der Welt, der mittels Leichtwasserreaktoren an Kernwaffen gekommen ist. Auch die im Bericht zitierten Pakistanis, die ja immer im Verdacht stehen, Gott und die Welt mit ihrem Kernwaffen-Know-How zu versorgen, wussten und wissen das, und haben sich für die vergleichsweise unproblematische Uranvariante entschieden. Eine Variante, die überhaupt keine Kernspaltungsreaktoren benötigt, sondern nur ein paar Zentrifugen, die die notwendige Anreicherung besorgen.
Weil die Türkei nun den Russen nur die Kernreaktoren abgekauft haben und nicht auch gleich die Brennstoffversorgung mit in Auftrag gegeben haben (laut Autor typischerweise für 60 Jahre – eine interessante These, für die es meines Wissens keinen bekannten Präzedenzfall gibt), sind sie natürlich hochverdächtig, die Türken. Das kann ja nicht mit rechten Dingen zugehen. Ein Staat, der nicht vom Ausland abhängig sein will? Undenkbar, dass es dafür lautere Motive geben kann. Oder vielleicht war das “all inclusive”-Angebot der Russen ja auch preislich uninteressant. Brennelemente kann man durchaus auch anderswo kaufen.
Tatsächlich gibt es viele gute Gründe, den Brennstoffkreislauf selbst in die Hand zu nehmen. Insbesondere bei der Verwertung abgebrannter Brennelemente gibt es interessante Technologien, die im Moment weltweit nur auf Sparflamme entwickelt werden. Hier könnte die Türkei dem Rest der Welt einen großen Gefallen tun und gleichzeitig für die Entsorgung der Abfälle reichlich Geld kassieren.
Dass der Autor dann noch von einer Zusammensetzung abgebrannter Brennelemente phantasiert, die aus welchem Grund auch immer 90% Abfall enthalten sollen – es kann nicht wirklich überraschen. Aber es wirft ein interessantes Schlaglicht auf die Qualität eines ehemaligen hohen Bundesbeamten. Genauso wie auf die redaktionelle Kontrolle der WELT.
Abschließend sei die Bemerkung erlaubt, dass es keinesfalls ausgeschlossen ist, dass die Türkei tatsächlich nach Atomwaffen strebt. Der Bau von zivilen Leichtwasserreaktoren ist dafür aber niemals der geeignete Kronzeuge, kein geeignetes Indiz. Nach wie vor teilen nicht alle Staaten der Welt unsere Kernenergiephobie, sondern haben erkannt, dass die Kernenergie durchaus Vorteile gegenüber der Konkurrenz wie Kohle, Gas und Öl hat. Es ist nach wie vor die umweltfreundlichste Art und Weise, Strom zu erzeugen.