Corona-Erkenntnisse: Politik

Auch im weiten Feld der Politik hat die Corona-Pandemie neue Erkenntnisse gebracht, Vermutungen bestätigt, Missstände ans Licht gebracht und althergebrachtes Wissen erneut validiert.

Neu war für mich, dass es ein für die Zukunft dringend zu beachtendes Signal aus Politikermund gibt. Wenn ein Minister sagt “Wir sind auf die Krise gut vorbereitet”, heißt es: sofort in den Supermarkt, und alles, was nicht schnell verderblich ist, vorratstechnisch für die nächsten 3 Monate aufstocken.

Neu war für mich auch, dass der Staat in seinem Kernbereich “Daseinsvorsorge” quasi nackt dastand. Keine strategische Reserve für den Pandemie-Fall von notwendigen Dingen wie Schutzkleidung, keine Strukturen zur schnellen Reaktion auf solche Krisen, und das obwohl vor etwa 10 Jahren die Bundesregierung eine Studie in Auftrag gegeben hat zur Vorbereitung auf den Pandemie-Fall. Deren Ergebnisse dann einfach zu den Akten gelegt wurden.

Wer sich noch an Angela Merkels Worte in 2015 “man kann eine Grenze gar nicht schließen” erinnert und diese schon immer für total dämlich gehalten hat (vor allem, nachdem Ungarn und Österreich damals vorgemacht haben, wie das doch geht), darf sich jetzt endgültig bestätigt fühlen. Denn plötzlich war es doch wieder möglich, die Grenze zu schließen und dort wirksame Kontrollen durchzuführen. Wer hätte das noch zu hoffen gewagt, dass der Staat im Kernbereich “Schutz der Staatsgrenzen” doch nicht ganz unfähig ist.

Bemerkenswert war auch, dass man an einem Tag die Regierung von Polen und natürlich den Lieblingsgegner Donald Trump für die Grenzschließung verdammt hat, um dann einige Tage später es ihnen gleich zu tun. Ebenfalls bemerkenswert, wie lange man den Flugverkehr aus Hochrisikogebieten wie China und später Italien einfach aufrecht erhalten hat, ohne die Neuankömmlinge wenigstens ein paar Tage in Quarantäne zu stecken. Oder womöglich mit einem Fieberscanner zu arbeiten, wie es Taiwan und Südkorea getan haben. Wohl zu viel High-Tech für ein mittelalterliches Land wie Deutschland. Man muss ja noch froh sein, dass man nicht ein paar Schamanen am Flughafen positioniert hat, die eine Diagnose per Geisterbeschwörung gestellt hätten.

Altbekannt sind die merkwürdigen Strukturen diverser Verwaltungseinheiten vom Landkreis bis zur EU. Dort, wo man die Krise gut einschätzen kann, hat man nicht die Mittel, auf sie nennenswert zu reagieren. Da, wo man den großen Überblick hat, neigt man zu gleichmacherischen Regeln und alle-über-einen-Kamm-scheren. Und noch weiter oben, in diesem Falle bei der EU, ergeht man sich nur noch in absoluter Nutzlosigkeit. Die EU hatte weder in Sachen Krisenprävention noch in Sachen Krisenreaktion irgendetwas beitragen können. Jedes Mitgliedsland war auf sich gestellt, Nachbarschaftshilfe (wie z.B. freie Plätze auf deutschen Intensivstationen für französische Staatsbürger) wurden bilateral unter den Mitgliedsländern verhandelt. Nur als das ganz große Rad der Geldverteilung angeworfen wurde, da war die EU natürlich wieder steuernd dabei. Unterm Strich: das Subsidiaritätsprinzip, oft beschworen in Sonntagsreden der Politik, ist gar nirgendwo in Sicht.

Auch die nahezu vollständige Überflüssigkeit supranationaler Institutionen wie UN oder WHO wurde durch die Krise eindrucksvoll bestätigt. Was die WHO abgeliefert hat, war wirklich zum Heulen. Anfangs Verharmlosung der Situation, offenbar stark von China beeinflusst, wertvolle Erkenntnisse aus Taiwan und Südkorea zum Thema “Übertragbarkeit von Mensch zu Mensch” ignorierend, mit widersprüchlichen Empfehlungen zu Verhaltensweisen – ein einziges Fiasko. Trump hat völlig recht, wenn er dem Laden den Finanzhahn zudreht. Die guten Dinge, die die WHO zum Beispiel mit den Impfkampagnen in ärmeren Ländern tut, kann man auch mit deutlich weniger Verwaltungsoverhead durch direkte Hilfen oder private Hilfsorganisationen erreichen.

Erneut hat sich in der Krise gezeigt, dass unser Bildungssystem hoffnungslos veraltet ist. Quer durch alle Schul- und Bildungsformen war man auf den Fall “kein Präsenzunterricht möglich” nicht im Ansatz vorbereitet. Und das, obwohl die Möglichkeit auf Fernunterricht auszuweichen ja auch im Alltag – wenn man z.B. als Schüler krank zu Hause sitzt – sehr wertvoll wäre. Dass es an einigen Schulen und Universitäten mit dem Einrichten von Fernunterricht nebst Remote-Prüfungen dann trotzdem geklappt hat, ist meist der Initiative einzelner zu verdanken. Und natürlich der heutzutage verfügbaren Infrastruktur bezüglich leicht zugänglicher Konferenzsysteme, nur ausgebremst durch unsere teilweise vorsintflutliche Internet-Infrastruktur. Wer mal am falschen Ende einer zu langsamen DSL-Verbindung versucht hat an einer Videokonferenz mit Screen-Sharing teilzunehmen wird wissen, von was ich rede. Aber was will man erwarten in einem Land, das bezüglich “schnellem Internet” ungefähr auf einer Stufe mit Albanien steht, und in dem “Breitbandausbau” oft beschworen, aber selten durchgesetzt und angemessen unterstützt wird.

Überhaupt Digitalisierung. Besonders unsere diversen Behörden und auch das Gesundheitssystem haben einen absolut beklagenswerten Zustand diesbezüglich offenbart. Gut, keine Überraschung im Land der nutzlosen E-Persos, wo man den E-Post-Brief für eine Innovation hielt, wo man erst neulich die Grundlagen für elektronische Rechnungsstellung schuf und wo die Zulassung eines KfZ zum Behördenabenteuer wird. Oder die Ummeldung des Wohnsitzes. Oder die Genehmigung eines neuen Gartenzauns. Wer mal in Finnland oder in Litauen war, kann sich ungefähr vorstellen, wie viele Jahrzehnte Deutschland hier hinterherhinkt. Und daran erkennt man auch, dass das Grundproblem nicht der oft beklagte “Flickenteppich” wegen unsere föderalen Systems ist – denn zentral auf Bundesebene klappt es ja auch nicht. Von der EU ganz zu schweigen.

Insofern kam es dann auch nicht überraschend, als Details bekannt wurden wie die Gesundheitsämter teilweise die Zahlen zu Neuinfektionen und Verstorbenen meldeten: per Fax. Niederschmetternd. Noch heute fällt häufig das aus meiner Sicht dringend zu nominierende Unwort des Jahres: “Meldeverzug”. Im IT-Zeitalter. Man fasst es nicht.

Kommen wir zum Knackpunkt: wie hat sich die deutsche Politik während der Corona-Krise bis dato angestellt? Da kann ich zu keinem positiven Urteil kommen. Die ersten Maßnahmen kamen viel zu spät, man hätte schon zum Zeitpunkt des Webasto-Falls die Flüge mindestens aus dem asiatischen Risikoraum komplett einstellen müssen, die Grenzkontrollen hochfahren und z.B. wie Taiwan und Südkorea Fieberscanner an den Flughäfen aufstellen müssen. Das Verbot für Großveranstaltungen kam auch reichlich spät, man erinnere sich an volle Fußballstadien bis kurz vor dem Lockdown. Die Schutzmaßnahmen für Pflegeeinrichtungen waren ebenfalls viel zu spät dran. Auch die Testkapazitäten wurden viel zu zögerlich ausgebaut, so dass man lange Zeit die Infektionsketten nur schlecht unterbrechen konnte, weil nur stark symptomatische Personen überhaupt getestet wurden. Dazu das Rumgeeiere bei den Masken, mit einer frühen Maskenpflicht in den öffentlichen Verkehrsmitteln wäre manche Infektion unterblieben.

Mit diesen schlechten Voraussetzungen war meines Erachtens der Lockdown dann nicht mehr ohne erhebliche Risiken zu vermeiden, auch wenn man über dessen Schärfe gerne streiten darf. Gemessen an den europäischen Nachbarn war unser Lockdown ja von der harmloseren Sorte und hauptsächlich von Empfehlungen, die keiner kontrollierte, getragen. Nun hat sich ja im Nachhinein herausgestellt, dass der viel zitierte R-Wert schon vor dem Lockdown unter die “magische” Grenze von 1,0 gesunken war. Daraus aber abzuleiten, dass der Lockdown unnütz war, ist meines Erachtens falsch. Zum einen sank der R-Wert hauptsächlich deshalb, weil viele Firmen schon Anfang März die Mitarbeiter wo möglich ins Home-Office schickten – dadurch wurden viele Ansteckungswege im Keim erstickt. Und schon Mitte März waren die Restaurants, die Läden, die Bars und die Innenstädte weitgehend verwaist. Das hat sehr geholfen. Aber man darf nicht vergessen: die Prävalenz war zum Zeitpunkt des Lockdowns noch sehr hoch, und die Belegungen der Intensivstationen schoss immer noch nach oben. Das Divi-Intensivregister zeigt z.B. am 27.März noch unter 1000 Patienten auf den Intensivstationen der meldenden Krankenhäuser, der Höhepunkt lag aber erst Mitte April vor bei rund 2900, von denen 2100 beatmet werden mussten. Es sollte klar sein, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung für den Lockdown im März nicht absehbar sein konnte, dass die Zahl der Intensivpatienten so deutlich unter der hektisch neu geschaffenen Gesamtkapazität der Krankenhäuser vor allem in Bezug auf Beatmungsplätze bleiben würde. Hinterher ist man eben immer schlauer.

Allerdings muss man auch sagen, dass bei hoher Prävalenz ein R-Wert knapp unter 1 auch nicht wirklich ideal ist – damit die Infektionswelle entsprechend schnell abklingt, wäre irgendwas um 0,7 schon anzustreben.

Letztlich haben wir im europäischen Vergleich vermutlich gerade noch Glück gehabt, den Lockdown früh genug veranlasst zu haben, bevor es richtig bitter wird. Inzwischen sagen die Wirtschaftsexperten ja, dass der geringste Schaden für die Wirtschaft entsteht, wenn ein früher, harter, kurzer Lockdown stattfindet – bzw. der Lockdown aufgrund von frühen, sanfteren Maßnahmen gar nicht erst notwendig wird. Also wie in Taiwan, Südkorea, Norwegen und Finnland, den Corona-Musterländern. Kaum Erkrankte und Tote, kaum Wirtschaftseinbruch.