Seit Beginn der Pandemie zeichnen sich Teile der öffentlichen Diskussion rund um COVID-19 und SARS-CoV-2 dadurch aus, dass wild irgendwelche Zahlen durch die Gegend geworfen werden um damit die eigene Lieblingshypothese zu untermauern. Oft wird dabei der Zeitfaktor außer Acht gelassen, und gerne wird genau ein für die eigene Argumentation günstiger Zeitpunkt genutzt, um allgemeingültige Erkenntnisse daraus abzuleiten. Hier ein kleiner Lehrgang, auf was es alles zu achten gilt und wo Vorsicht geboten ist. Und wie man merkt, dass irgendeiner einen verarschen will.
Eine der meistgenannten Zahlen sind die “Fälle” und “Inzidenzen”. Man muss aber stets berücksichtigen, in welchem Kontext diese Zahlen erhoben werden. Beispielsweise wie viele Tests durchgeführt wurden und wie hoch die Positivquote dieser Tests ist. Wenn die Positivquote bei hinreichend hoher Testanzahl irgendwo zwischen 0,1% und 1% liegt, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man eine ganz gute Testabdeckung erreicht hat. Auf den Höhepunkten der großen Infektionswellen in Deutschland lag die Positivquote allerdings bei bis zu 20% – ein sicheres Zeichen dafür, dass die Zahl der Tests nicht mal ansatzweise reicht, um das Ausmaß der Infizierten abzubilden. Zusätzlich ist hier die Aussagekraft der Fallzahlen und Inzidenzen zu berücksichtigen: welches Problem daraus tatsächlich erwächst, kann man nur abschätzen, wenn man die Altersstruktur der Infizierten und deren Impf- bzw. Genesenen-Status kennt – in der zweiten Welle, als der allergrößte Bevölkerungsanteil in Deutschland noch ungeimpft war, konnte man recht sicher sein, dass aus 1000 Infizierten 50-100 Hospitalisierte und 10-20 Intensivpatienten und 5-10 Tote folgten. Mit Fortschreiten der Impfkampagne hat sich das zum weit Besseren gewendet, mit Nachlassen des Schutzes durch Impfung oder Genesung wieder leicht zum schlechteren, mit der Auffrischimpfung wieder zum Besseren. Besonders wenn man internationale Quervergleiche macht, muss man sowohl den Verlauf der Impfquote sowie mindestens das Durchschnittsalter der Bevölkerung berücksichtigen, für eine bessere Abschätzung am besten nach Alterskohortenzahlen aufgesplittet und idealerweise noch Informationen über die zahlenmäßige Verwendung der verschiedenen Impfstoffe, denn deren Wirksamkeit hat sich ja auch als höchst unterschiedlich herausgestellt. Zusatz-Warnung beim Vergleich internationaler Zahlen: in manchen Ländern gilt nicht nur ein laborbestätigter positiver PCR-Test als “Fall”, sondern schon ein positiver Schnelltest.
Bei den Fallzahlen ist auch zu berücksichtigen, dass die Bevölkerungsdichte und die Mobilität eine entscheidende Rolle spielen. Aber letztlich interessieren die Fallzahlen nur als Frühindikator, denn das wirkliche Problem der Pandemie sind ja die schweren Verläufe und Todesfälle. Es bedarf einer Abschätzung auf Basis aller genannter Einflussfaktoren, um aus den Fallzahlen die richtigen Rückschlüsse zu ziehen. Dummerweise stehen den hiesigen Politikern nur eher schlechte Daten zur Verfügung, und ob sie besser entscheiden würden, wenn die Daten besser wären, kann auch bezweifelt werden.
Weitere wichtige Einflussfaktoren bei den Fallzahlen sind auch die Zahl der durchgeführten (Schnell-)Tests und daraus folgende Aktionen – wie schnell werden Kontaktpersonen identifiziert und getestet, wie sind die Quarantänevorschriften, und werden diese tatsächlich eingehalten und kontrolliert? Länder wie Südkorea und Taiwan sind unter anderem durch sehr schnelle Kontaktnachverfolgung und umfangreiche Testregime – neben konsequenten Einreiseregeln – relativ unbeschadet durch die Pandemie gekommen. Im technologischen Drittweltland Deutschland, wo die Gesundheitsämter inzwischen die Kontaktnachverfolgung an die Bevölkerung delegiert hat und sich große Teile dieser weigern, eine einfache App zu nutzen, sieht das naturgemäß anders aus.
Nicht zu unterschätzen ist übrigens auch der Faktor “Glück”. Man kann das z.B. anhand von Tschechien gut nachvollziehen: quasi keine erste Welle im Frühjahr 2020, die zweite Welle begann dafür schon Anfang September 2020 statt wie bei uns Mitte Oktober. Daran sieht man auch, dass man keine direkten Schlüsse aus “Maßnahmen” auf “Fallzahlen” ziehen sollte – der Zufallsfaktor hat im Einzelfall einen viel zu großen Einfluss, selbst wenn man alle anderen Faktoren mit einbezieht. Tschechien illustriert auch noch etwas anderes sehr schön: noch im Oktober 2021 wähnten manche Tschechien als “durchseucht” und damit weitestgehend immunisiert. Was sich schon im November 2021 als ziemlicher Irrtum herausstellte, mit vielen tausend zusätzlichen Toten, nicht zuletzt aufgrund der geringen Impfquote, und trotz des deutlich niedrigeren Durchschnittsalters als hierzulande. Was letztlich auch erneut beweist, dass die Theorie “es sterben nur die Alten und Schwachen” grundlegend falsch ist, denn die wären in Tschechien schon zum Jahreswechsel 2020/2021 gestorben. Der vielzitierte Harvesting-Effekt zeigt sich auch in den diversen Kurven zur Übersterblichkeit wenig bis überhaupt nicht.
Überhaupt die Übersterblichkeit – es empfiehlt sich, hier genau hinzuschauen. Die einzelnen Jahre der Vergangenheit schwanken ziemlich stark, des Winters ob einer starken oder schwachen Grippewelle, des Sommers wegen gelegentlichen Hitzewellen, und generell ist auch hier der Faktor “Zufall” nicht zu unterschätzen, denn ein Jahr mit ungewöhnlicher Untersterblichkeit wird logischerweise in den Folgejahren zu leichter oder stärkerer Übersterblichkeit führen. Man muss auch aufpassen, nicht zuviel wegzumitteln – in Deutschland beispielsweise waren die Infektionswellen in den einzelnen Regionen ja keinesfalls synchron, und zudem lokal von ganz unterschiedlicher Höhe. Und so kann es nicht überraschen, dass beispielsweise die zweite Welle nur für Sachsen betrachtet eine erhebliche Übersterblichkeit in der Statistik hinterlassen hat, in Mecklenburg-Vorpommern hingegen nicht so sehr.
Ein derzeit beliebter Statistikkunstgriff in gewissen Kreisen ist übrigens der Vergleich zwischen dem “Pandemiejahr 2020” und dem “Impfjahr 2021”, wo die relativ überschaubare Übersterblichkeit in 2020 für das Narrativ “das Virus ist harmlos” herhalten muss, während die deutliche Übersterblichkeit in 2021 auf die Impfung zurückgeführt wird. Was natürlich kompletter Bullshit ist, wenn man sich die Zahlen mal etwas genauer anschaut: der Löwenanteil der Verstorbenen in 2021 verstarb lange bevor die Impfkampagne halbwegs Fahrt aufgenommen hatte, und in 2020 begann die Pandemie bekanntlich erst im März (nach zwei Monaten deutlicher Untersterblichkeit wegen harmlosem Verlauf der saisonalen Grippewelle), man bekämpfte die Ausbreitung erfolgreich durch recht harte Schutzmaßnahmen und die anlaufende zweite Welle führte erst zum Jahresende 2020 zu einer signifikanten Anzahl von COVID-19-Toten. Und wenn man sich anschaut, wie bei ungeimpfter Bevölkerung das Verhältnis Infizierte-zu-Toten war und wie viel freundlicher das jetzt – trotz immer noch unzufriedenstellender Impfquote – aussieht, wird klar, dass der einzige Gamechanger in dieser Pandemie bisher die Verfügbarkeit der Impfstoffe war. Nicht, um die Fallzahlen unter Kontrolle zu haben, sondern um den Anteil der schweren Verläufe drastisch zu senken.
Ebenfalls beliebt scheint derzeit die Behauptung “die Impfung bringt nix – schau’ die hohen Infektionszahlen in Land XY”. Inzwischen sollte sich ja herumgesprochen haben, dass die neueren Varianten von SARS-CoV-2 deutlich infektiöser mit der Zeit geworden sind, und die Maßnahmen wurden in diversen Ländern eher laxer bzw. wurden nicht mehr in dem Maße befolgt wie Anfang 2020 – ein Vergleich der Fallzahlen der ersten Welle beispielsweise mit der dritten Welle verbietet sich also nicht nur deshalb, weil das Testregime völlig anders aussieht. Zudem zu berücksichtigen ist, dass die Impfung bekanntlich sehr gut gegen schwere Verläufe schützt, aber weniger gut (und deutlich schneller nachlassend) gegen Infektion – was übrigens für Genesene genauso gilt, was im Nachhinein nochmal vor Augen führt, was für eine dumme Idee “maximal schnelle natürliche Durchseuchung” war: es hätte lediglich dazu geführt, in jeder Welle das Maximum an Kranken und Toten zu generieren, aber die Pandemie wäre trotzdem immer noch nicht vorbei.
Also: Augen auf beim Zahlenvergleich. Ich empfehle für den schnellen Überblick Worldometer https://www.worldometers.info/coronavirus/, für Detailvergleiche auf Länderebene OurWorldInData https://ourworldindata.org/explorers/coronavirus-data-explorer. Tagesaktuelle Zahlen machen selten Sinn, das 7-Tage-Mittel hat sich ganz gut bewährt, weil es eventuell unzureichende Meldestrukturen wie in Deutschland gut glätten kann.