Kamala Harris – eine Neuauflage des Martin-Schulz-Effekts?

Wie hierzublogs vorhergesagt, ist Biden aus dem Rennen. Überraschenderweise hat Harris das Zepter übernommen. Die Kamala Harris, die selbst in den linken Medien in den USA heftigst für diverse Aktionen und Äußerungen während ihrer Vizepräsidentschaft kritisiert wurde. Über die man während ihrer Zeit als Vizepräsidentin kein einziges gutes Wort gehört hat. Und die wirklich katastrophal schlechte Beliebtheitswerte hatte. Spannende Wahl.

Im Moment wird von einem gewaltigen “Momentum Shift” von Trump hin zum Duo Harris-Walz berichtet. Umfragen zeigen überwiegend in diese Richtung – Harris hat den Rückstand aus Biden-Zeiten mehr als wettgemacht, auch wenn die Umfragen bisher nur in der irrelevanten “popular vote”-Kategorie für Harris ausgehen, denn in diversen entscheidenden “Swing States” hat weiterhin Trump die Nase vorn. Aber solche Momentaufnahmen sind trügerisch, der Trend scheint mir klar.

Es erinnert mich jedenfalls an die Zeit, als Martin Schulz bei der SPD das Zepter übernahm, um Angela Merkel bei der Bundestagswahl 2017 herauszufordern. Mehr Hype war selten, Schulz wurde gar auf dem SPD-Parteitag mit 100% der Stimmen zum Vorsitzenden gewählt. Die SPD vermeldete eine wahre Flut an Neueintritten in die Partei. In den Umfragen gab es einen dramatischen Umschwung zugunsten der SPD. Dann wurde Schulz allerdings leichtsinnig und hat begonnen, sich zu Sachthemen zu äußern, und schon bei den ersten Tests, den drei Landtagswahlen vor der Bundestagswahl, scheiterte die SPD grandios. Der Schulz-Zug war entgleist, entpuppte sich als klassisches Strohfeuer – ob nun ausschließlich demoskopischer oder auch tatsächlicher Natur spielt eigentlich keine Rolle. Am Ende fuhr die SPD mit 20,5% der Zweitstimmen bei der Bundestagswahl das schlechteste Ergebnis der Nachkriegsgeschichte ein.

Äquivalent dazu hat sich Kamala Harris bisher zu keinem relevanten politischen Thema geäußert. Wer ihre Reden kennt, weiß: das ist eine sehr gute Idee. Die Harris-Walz-Kampagne versucht so eine Art “Begeisterung ohne Themen”-Wahlkampf zu führen, wie man es von Obama kannte. Die US-Medien reden deshalb teilweise im Moment von der “Honeymoon Phase” – viel Euphorie, aber nichts dahinter. Gegen eine Äquivalenz Schulz-Harris hingegen spricht, dass der Zeitraum, den Harris überleben muss, deutlich kürzer ist. Drei Monate Honeymoon scheint nicht aussichtslos zu sein. Aber es kommen noch bis zu drei Kandidaten-Fernsehdebatten, und dazu noch eine zwischen den Vize-Präsidentschaftskandidaten. Kaum einzuschätzen, wie das die Stimmungslage ändern wird. Die Geschwindigkeit, in der sich Harris von ihren vorherigen unpopulären Positionen schon entfernt hat, und gleichzeitig trotzdem im Ungefähren blieb, ist atemberaubend.

Übrigens hatte Harris schon einmal eine solche “Honeymoon Phase”: als sie sich zur Vorwahl der Demokraten zum Präsidentschaftskandidaten 2020 stellen wollte. Die Presse war begeistert, das Fundraising vermeldete Rekorde, aber nach schlechten Umfrageergebnissen stieg Harris schon vor der ersten tatsächlichen Vorwahl aus, und es gab den Zweikampf Biden-Sanders.

Spannend finde ich, dass nach meiner Beobachtung die Trump-Kampagne von der Harris-Nominierung kalt erwischt wurde, und immer noch recht planlos erscheint. Kein Plan B, alle glaubten an Biden als Gegner? Schwer zu glauben. Aber vielleicht sind die US-Wahlkämpfer ja auch nur Amateure mit Profi-Ruf. Oder sie haben mehr noch als die Demokraten an das Märchen vom fitten und wahlkampfbereiten Joe Biden geglaubt – schwer vorstellbar, aber was sonst sollte die Erklärung für diese Kopflosigkeit sein? Klar, dass ausgerechnet Harris Biden beerben würde, war vielleicht einfach nicht vorstellbar, wenn man den Harris-Track-Record als Vize und ihre allgemeine Unbeliebtheit kannte. Jedenfalls erscheint im Moment Trump und seine Wahlkampfstrategie sehr Ich-bezogen und eher rückwärtsgewandt, ganz im Gegensatz zur erfolgreichen 2016er Kampagne. Ich halte das für einen dramatischen Fehler.

Und macht nun Trump das Rennen, oder Harris? Das wird jetzt auf den Wahlkampf-Schlussspurt ankommen. Wer weniger Fehler macht, gewinnt. Wobei die unklare Verfassung der US-Wirtschaft auch den Ausschlag geben könnte – rutschen die USA auch nur in die Nähe einer Rezession, vielleicht inklusive wirkungsloser FED-Zinssenkungen mit Anfachen erneuter inflationärer Tendenzen, dann neigt der US-Wähler gerne zum Regierungswechsel. Das Rennen gegen Biden hätte Trump fast sicher gewonnen, aber jetzt scheint die Sache offen. Gegen Harris spricht definitiv, dass sowohl sie selbst als auch ihr Vize im politischen Spektrum der Demokraten eher links einzuordnen sind. Gewöhnlich wählt der US-Wähler nicht so weit links, aber bei Trump könnte er schon mal eine Ausnahme machen – ähnlich wie damals bei Trump gegen Clinton die ABC-Wähler (“Anything But Clinton”) den Ausschlag gegeben haben. Als Biden noch im Rennen war, war es ja auch noch extrem knapp, Trump war noch leicht in Führung – und das beim damals schon offensichtlichen schlechten Gesundheitszustand von Biden. Das spricht dafür, dass es eine Menge “niemals-wieder-Trump-Wähler” gibt, die zudem wohl kaum der Wahlurne fernbleiben werden. Ich bin gespannt. Und glaube derweil, erfüllt von unbegründetem Optimismus, dass – äquivalent zu meiner Überzeugung damals, als Merkel nicht mehr antrat – es nicht mehr schlimmer kommen kann, als es unter Biden war. Famous last words.

Aus meiner Sicht wird die Immigrationsdebatte der wahlentscheidende Punkt sein. Es ist schwer vorstellbar, dass Kamala Harris da in der öffentlichen Wahrnehmung als Siegerin hervorgeht – sie war mit dem Thema “Grenzsicherung zu Mexiko” beauftragt und hat da ein ganz schlechtes Bild abgegeben. Die Wähler werden sich daran erinnern. Ihr Vizepräsidentenkandidat hat auch ein paar sehr dunkle Flecken bezüglich “Innere Sicherheit” auf seiner weißen Weste (Stichwort Black-Lives-Matter-Unruhen). Ob Trump aber den Elfmeter verwandelt, daran habe ich Zweifel. Nach meiner Wahrnehmung konzentriert er sich zu sehr auf die Person – sowohl seine eigene als auch seines Gegners – anstatt auf seine einfachen, klaren Botschaften zu diversen Sachthemen, wie er es im Wahlkampf 2016 erfolgreich gemacht hat. Aus meiner Sicht ein klarer Fehler, aber ob der sturköpfige Trump sich da belehren lässt? Ich habe Zweifel.

Keine Zweifel habe ich hingegen, dass die Demoskopen im Moment überhaupt keinen Plan haben. Denn das, was in den letzten paar Wochen alles stattfand – der katastrophale Biden-Auftritt im ersten TV-Duell, das missglückte Trump-Attentat, der Biden-Rückzug mit nachfolgender Harris-Nominierung – sorgt dafür, dass sozusagen die “Baseline” für die Umfragen überhaupt nicht klar ist. Alles, was da passiert ist, hat überhaupt keine geschichtlichen Vorbilder. Dementsprechend gibt es auch keine Daten zur Absicherung von Auswirkungen auf das Wahlverhalten in irgendeiner Form. Das wird die Demoskopen und vor allem die sie dankbar zitierende Presse jedoch kaum davon abhalten, jeden Tag neue Umfrageergebnisse zu publizieren und zu kommentieren.

Randnotiz: Teile der deutschen Presse betätigen sich auch diesmal wieder als totale Noobs bezüglich US-Politikdetails. Wo immer man lesen kann, dass Kamala Harris als “liberal” gilt: das ist einfach falsch übersetzt, das deutsche “liberal” ist in den USA “libertarian”, während das US-“liberal” sich am ehesten mit “linksliberal” übersetzen lässt. Bei manchen Standpunkten von Harris wäre wohl auch “linksradikal” oder “linksextrem” angebracht.