Seit meinem letzten Ukraine-Update von Anfang September letzten Jahres hätte es viele Gelegenheiten gegeben, über den weiteren Verlauf des russischen Angriffskrieges zu spekulieren. Beispielsweise nach Beginn der russischen Winter-Offensive, wo man sich bis heute fragt, ob die eigentlich stattgefunden hat oder ob Russland so schwach ist, dass man trotz Konzentration aller verfügbaren Kräfte es gerade mal für einen Pyrrhus-Sieg in Bachmut gereicht hat. Oder alles einer cleveren, aber bisher undurchsichtigen Strategie der Russen folgt, um welches-Ziel-auch-immer zu erreichen. Oder die ganzen Geschichten zu den Waffenlieferungen von Schützenpanzern über Kampfpanzer bis hin zu F16-Kampfflugzeugen, und ob es jetzt 16 oder doch 18 deutsche Leo 2 sein werden. Oder warum die bei der Bundeswehr lange ausgemusterten Gepard-Flakpanzer in der Ukraine als ein sehr beliebtes und erfolgreiches Waffensystem reüssierten. Oder die langdauernde Vorbereitungsphase der ukrainischen Gegenoffensive, die eventuell oder auch nicht dann tatsächlich im Mai begonnen hat. Oder über die ausbleibenden Fortschritte dieser Offensive nebst Verlust “westlicher Panzer”, die so natürlich niemals nicht hätten passieren dürfen – schließlich ist so ein Leo 2 bekanntlich unverwundbar und topmodern mit seiner Grundkonstruktion aus den 70ern, so eine High-Tech-Kiste kann ja niemals auf dem Schlachtfeld ausfallen. Dann die Sprengung des Kachowka-Damms (“Die Russen waren es! Nein, die Ukrainer! Alles von den Amis eingefädelt! Das waren doch diese britischen Marschflugkörper, die sind extra dafür geliefert worden! Nein, die Russen wollten doch nur ein kleines Loch reinsprengen und dann haben sie es verkackt!”). Unwillkürlich fühlte man sich auf der Suche nach Schuldigen an die Sabotage der Nordstream-Pipeline erinnert, wo ja auch jeder seine Lieblingstheorie hat.
Und nun die große Wagner-Revolution. Was Freitag noch wie ein großangelegter Putsch mit durchaus guten Erfolgsaussichten aussah, entpuppte sich einen Tag darauf als Revolutiönchen, das schneller im Sande verlief als irgendjemand glauben mochte. Und unter allen Ereignissen dieses Krieges ist es eins der rätselhafteren, und da gibt es ja wahrlich genug Konkurrenz. Einige brachten die Theorie ins Spiel, Prigoschin sei von den Amis gekauft worden, um Putin zu eliminieren. Das war zu Anfang vielleicht noch eine zumindest plausible Hypothese, aber nach der Exil-in-Weißrussland-Auflösung zunehmend unwahrscheinlich. Dann gab es die Idee, das alles ein abgekartetes Spiel zwischen Prigoschin und Putin wäre – das erklärt aber nicht die sehr unsouveräne, fast panikartige Reaktion von Putin und der tatsächlich stattfindenden Scharmützel zwischen Wagner und russischer Armee, Nationalgarde, und was da sonst noch am Start ist. Wenn man sich anschaut, wie schnell die Wagner-Truppen quasi ohne Widerstand gen Moskau vorgestoßen sind, fragt man sich schon, ob Putin wirklich daran interessiert sein kann, zu illustrieren, wie schutzlos sein Land im Moment durch die Konzentration der kämpfenden Truppe in der Ukraine wirklich ist. Vor allem, weil er ja nicht müde wird zu behaupten, dass die NATO quasi demnächst in Russland einmarschieren wird. Eine Verfeinerung der alles-abgesprochen-Theorie ist, dass Putin unauffällig eine schlagkräftige Truppe nach Weißrussland verlegen wollte, um dort die Front im Norden wiederzueröffnen. Diese Hypothese erscheint mir eher abwegig, denn 30000 Mann sind jetzt von der Schlagkraft her eher übersichtlich, zumal sie ja schwere gepanzerte Waffensysteme brauchen würden – und deren Transport ist kaum geheimzuhalten und nach jetzigem Erkenntnisstand (noch?) nicht erfolgt.
Die ganze Aktion hat die russischen Truppen in der Ukraine ja auch durchaus geschwächt, die Wagner-Söldner sind ja durchaus kampferfahren und wären vor Ort sicherlich wertvoll bei Verteidigung und Gegenangriff gewesen. Es könnte aber sein, dass die russische Strategie tatsächlich schon – wie Prigoschin die letzten Monate ja nicht müde wurde zu behaupten – eine Art Aushungern der Wagner-Truppe durch schleppende Material- und Munitionsversorgung war mit dem Ziel, die Wagner-Kämpfer langfristig in die russische Armee zu überführen oder alternativ aus dem Spiel zu nehmen, ironischerweise vielleicht sogar wegen befürchteter Putschgefahr. Wenn Prigoschin das so gesehen hat, wäre es gut denkbar und plausibel, dass er den – so er denn stattgefunden hat, die russische Armeeführung bestreitet das ja vehement – Angriff russischer Einheiten auf ein Wagner-Camp zum Anlass für einen Befreiungsschlag genommen hat. Lieber mit einem Knall gehen und noch ein paar Feinde mitnehmen, als dem langsamen Siechtum beizuwohnen. Dass er die Wagner-Truppen nicht bis zum bitteren Ende gegen russische Einheiten kämpfen lässt, passt auch gut zu Prigoschins vermutetem Mindset: kein Blut von Russen vergießen. Und vielleicht waren seine Erzfeinde Schoigu und Gerassimov wirklich das Ziel dieser Aktion, und nachdem deren Eliminierung kurzfristig nicht erreichbar war, sollte der Marsch auf Moskau eben nicht im großen Bürgerkrieg enden – auch das passt zu Prigoschin und seinen kolportierten Ansichten.
Interessant ist auf jeden Fall, dass jetzt plötzlich wieder Lukaschenko im Spiel auftaucht, der ja eigentlich seit seiner Ablehnung einer aktiveren Rolle Weißrusslands im Krieg gegen die Ukraine mehr oder weniger unbeteiligt an der Seitenlinie steht. Seine Vermittlerrolle kam für mich doch eher überraschend, aber aus Putins Sicht vermutlich willkommen – sehr lange hat Putin ja die Eskapaden von Prigoschin gedeckt und die Wagner-Truppen auch dringend gebraucht, sei es in Syrien, Mali oder in der Ukraine. Wagner konnte dahin gehen, wo die russische Armee nicht eingreifen konnte oder sollte. Vermutlich hat deshalb Putin seinen großen Worten bezüglich der Behandlung der Verräter da keine Taten folgen lassen, weil er nach der ersten Panik erkannt hat, dass ein Deal mit Prigoschin auf lange Sicht die bessere Idee ist.
Ist Putin nun angeschlagen? Götterdämmerung in Russland? Bröckelt der Koloss auf den tönernen Füßen? Hilft all das der Ukraine? Man weiß es nicht. Es bleibt viel Raum für Phantasie. Für mich ist besonders interessant zu beobachten, ob Prigoschin weiterhin die Öffentlichkeit mit seiner doch recht drastischen Kritik vor allem an der russischen Armeeführung suchen wird, und wie lange er in Weißrussland überlebt – Profi-Tipp: am besten immer im Erdgeschoss aufhalten. Und was mit den ganzen Wagner-Söldnern nun eigentlich passiert. Zumal Wagner ja auch noch andere Geschäftsbereiche hat als “wir führen Krieg für Wladimir”, aber letztlich zu großen Teilen von Staatsaufträgen gelebt hat. Da wird sich aber sicher ein Oligarch von Putins Gnaden finden, der sich da großzügig opfert um den Geschäftsbetrieb weiterzuführen.