COVID-19 – Here we go again

In vielen Bereichen des Lebens spricht man ja von einer “Lernkurve”. In der Softwareentwicklung hat man zum Beispiel das CMM (“Capability Maturity Model”) entwickelt, mit den Stufen 1 bis 5. In einfache Sprache übersetzt bedeutet Stufe 1 “erste Versuche, ad-hoc-Vorgehen”, Stufe 2 “schon mal gemacht – das, was sich bewährt hat, behalten wir bei, es entwickelt sich Routine”, und Stufe 3 “definiertes Vorgehen, wir wissen recht gut was funktioniert und was nicht und haben einen Plan, um genau das zu tun, was funktioniert”.

Bei der Pandemie-Bekämpfung sehe ich vor allem die Politik seit Januar 2020 auf Stufe 1 herumkrebsen. Egal ob Empfehlungen oder Kennzahlen oder Organisation oder Impfung – was zu Anfang der Pandemie noch einigermaßen verständlich (wenn auch unentschuldbar aufgrund existierender Planspiele und Vorüberlegungen und mindestens 20 Jahre Zeit zur Vorbereitung) war, ist inzwischen nur noch peinlich.

Im Moment wiederholt sich das Impfdesaster von Anfang 2021. Obwohl die Zahlen aus Israel seit etwa Ende Juli 2021 klar sagen, dass die Wirkung der Impfung vor allem bei den Risikogruppen nach teilweise weniger als 6 Monaten spürbar nachlässt. Obwohl die Zahlen aus aller Welt wenig Gutes über die AstraZeneca- und J&J-Impfung bezüglich der Delta-Variante sowie die Dauer der Wirksamkeit sagen. Obwohl von Anfang an klar war, dass man die Wirksamkeit der Impfung eng überwachen muss, um rechtzeitig reagieren zu können, hat die Politik das Problem erneut konsequent verschlafen, zur Unzeit die Impfzentren dichtgemacht, noch im Oktober von einem “Freedom Day” gelabert, und hauptsächlich auf die überschaubare Zahl der Impfgegner geschimpft, anstatt die Impfwilligen und Impfunentschlossenen bestmöglich zu versorgen.

Ebenfalls wiederholt sich das Krankenhausdesaster. In Baden-Württemberg werden seit heute Intensivpatienten in andere Bundesländer verlegt, um Platz zu schaffen für die COVID-19-Patienten, von denen man heute schon weiß, dass sie demnächst im Krankenhaus landen werden. Unnötig zu sagen, dass der Regelbetrieb in den Krankenhäusern schon lange wieder Geschichte ist und alle nicht dringend notwendigen medizinischen Eingriffe schon wieder verschoben werden. Es kann jeder von Glück sagen, der seine schwere Erkrankung schon im Sommer hinter sich gebracht hat.

Ein Dauerärgernis ist das Meldedesaster. Egal ob Impfung, Infektion, Hospitalisierung, Intensivstationsbelegung oder Intensivbettenkapazität – der berühmte Meldeverzug, gerne in Kombination mit Meldung per Fax oder Brieftaube, ist auch im Jahr 2 der Pandemie allüberall. Das Land Baden-Württemberg hat ja aufgrund der Überlastung der Gesundheitsämter – auch ein Dauerzustand seit Tag 1 der Pandemie – die Kontaktnachverfolgung eingestellt und überlässt das jetzt den Infizierten bzw. Erkrankten. Das klappt wirklich prima. Es fällt einem auch nach intensivem Nachdenken überhaupt kein Bereich des Staatswesens mehr ein, der als “funktionierend” bezeichnet werden könnte, mit der möglichen Ausnahme “Parkraumüberwachung” und “Steuer eintreiben” – letzteres ist vermutlich der einzige Bereich im Staatswesen, der ausreichend automatisiert ist, so dass die Inkompetenz des Personals weniger Schaden anrichten kann.

Aber das Meldedesaster nebst den Schwierigkeiten der zeitnahen Aufbereitung der gesammelten Zahlen entschuldigt nicht alles – die Belastung der Krankenhäuser und die Notwendigkeit der Auffrischimpfung war lange vorhersehbar, auch auf Basis der allseits zugänglichen Zahlen des RKI. Abr es benötigt halt ein Minimum an Restintelligenz, diese Zahlen auch zu interpretieren.

A propos Intelligenz: in Sonntagsreden der Politik kommt ja häufig unser Nachwuchs zur Sprache. Die Kinder und Jugendlichen sind wichtig, ihre gute Ausbildung der Schlüssel zur Zukunft und so weiter. Die Realität hingegen zeigt, dass planlos rumgehampelt wird. Auf der Hand liegende Maßnahmen von der Maskenpflicht im Unterricht bis zu Luftreinigern und Hygieneprotokollen sowie einem umfangreichen Testregime – viel liegt in der Hand der einzelnen Schule, und auch der Online-Unterricht als Königsweg der Pandemiebekämpfung ist von nach wie vor sehr durchwachsener Qualität. Etwas besser sieht es an den Universitäten aus, da scheitert es eher an wirklich schwierig zu lösenden Problemen der Kategorie “wie verhindere ich wirksam Betrug bei Online-Prüfungen”. Denn selbständiges Lernen ohne Präsenzveranstaltung sollte nun wirklich jedem Studenten möglich sein, es ist sowas wie die Definition der Hochschulreife.

Die COVID-19-Lernkurve der Politik ist eine entartete Kurve. Mehr so eine Gerade. Parallel zur X-Achse. CMM Stufe 1 – aus Ermangelung einer Stufe 0. Verkacken in Serie. Für den gemeinen Bürger bleibt nur, sich selbst bestmöglich zu helfen – durch die Impfung, durch rechtzeitige Auffrischungsimpfung, durch Besonnenheit bei den persönlichen Kontakten, durch eine vorsichtige Einschätzung von Risiken.

Wer sich nun fragt, warum der Bürger solche Politiker immer wieder wählt – es gibt mindestens zwei Gründe. Der erste Grund: es gibt schlicht keine schlüssigen Alternativen. Die Partei, die das Wort im Namen trägt, war Anfang 2020 auf der richtigen Spur, ist aber inzwischen eine derart dämliche Ansammlung von Schwurblern ohne Faktenbasis, dass sie sich das Prädikat “unwählbar” redlich verdient und damit endlich zu den anderen im Parlament vertretenen Parteien aufgeschlossen hat. Der zweite Grund: der alte Leitsatz “dumme Menschen wählen dumme Politiker” hat weiterhin seine Gültigkeit. Auf die Intelligenz eines nicht geringen Anteils der Bevölkerung oder gar breite Rücksichtnahme braucht niemand zu hoffen – das ständige Wiederholen zigtausendfach widerlegter Hypothesen hat die Schmerzgrenze hier schon lange überschritten, eine sachlich-fachliche Diskussion ist unmöglich geworden. Selbst die allereinfachsten und minimalinvasivsten Dinge wie das richtige Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes oder das Verwenden der Corona-Warn-App ist einem erschreckend großen Teil der Bevölkerung nicht möglich – die Idee, dass die Bevölkerung unseres Landes ausreichend gebildet und gleichzeitig solidarisch veranlagt ist wurde nun in dieser Pandemie nachhaltig widerlegt. Und zu dieser Erkenntnis gelangt man unabhängig davon, wie man zur Impfung steht. Bei der Impfung gibt es immerhin ernstzunehmende, wenn auch sehr schwache Argumente für eine Verweigerung, das ist immerhin auf einem ähnlichen geistigen Niveau wie die Ablehnung der Gurtpflicht im Kfz.

Oder wie Blog-Kollege Danisch zu sagen pflegt: Geliefert wie bestellt.