Nie zuvor in der mir erinnerlichen jüngeren Geschichte der Bundesrepublik wurde derart häufig auf “Grundrechte” bzw. das Einschränken derselben verwiesen. In vielen Fällen habe ich festgestellt, dass die meisten Diskutanten dazu neigen, eine sehr enge Sicht auf “Grundrechte” zu haben und gerne das ihnen für den Moment genehme Grundrecht (z.B. “Demonstrationsrecht”).
Sehr häufig, wenn Nichtjuristen über juristische Themen schreiben, kommt vorausschickend der halb erklärende, halb entschuldigende Teilsatz “ich bin kein Jurist, aber…”. Ich habe das auch häufig getan, aber nach längerem Nachdenken gibt es dafür eigentlich keinen Grund. Zwar halte ich die Juristerei für eines der Gebiete, die am wenigsten intuitiv sind (also dem gesunden Menschenverstand zugänglich oder der gesunden Logik des durchschnittlichen Naturwissenschaftlers), aber Jura ist ja kein Selbstzweck, sondern sollte ganz dringend zu denselben logischen Ergebnissen kommen wie eben der gesunde Menschenverstand. Das scheint selten so zu sein, aber was nicht ist kann ja noch werden. Da die Juristen ja auch in den meisten Diskussionen über Ihnen fachfremde Themen nicht mit dem Teilsatz “ich bin zwar kein Informatiker, aber…” oder “ich bin zwar kein Energietechniker, aber…” einleiten – bösartige Vermutung: weil sie der irrigen Meinung sind, dass technisches Fachwissen bei der Beurteilung einer Sache nur hinderlich sein kann – unterlasse ich das hier auch.
Das am häufigsten beklagte eingeschränkte Grundrecht ist nach meiner Beobachtung derzeit die Versammlungsfreiheit, oft “Demonstrationsrecht” genannt. Daran kann man exemplarisch erklären, was denn die Schwierigkeit bei Grundrechten an sich ist. Es gibt nämlich (bis auf die unveräußerlichen Menschenrechte, abgebildet in den nicht änderbaren Grundgesetzartikeln wie “Die Würde des Menschen ist unantastbar”) keine uneingeschränkte, absolute Geltung eines jeden Grundrechts. Quasi jedes der Grundrechte in Deutschland kann über ein spezielles Gesetz eingeschränkt werden, beispielsweise wenn es ein Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen Grundrechten gibt. Dann muss – wie fast immer in der Juristerei – abgewogen werden zwischen den widerstreitenden Interessen. Und natürlich muss auch die immer gerne zitierte “Verhältnismäßigkeit” beachtet werden. Und wie man leicht sehen kann, liegen eben “Abwägung” und “Verhältnismäßigkeit” stark im Auge des Betrachters.
Die gesetzliche Grundlage für diverse Einschränkungen zu Corona-Zeiten ist das Infektionsschutzgesetz. Es erlaubt weitreichende Einschränkungen beispielsweise der Unverletzlichkeit der Wohnung, der körperlichen Unversehrtheit, der Freizügigkeit, der informationellen Selbstbestimmung (kein im Grundgesetz verankertes Grundrecht, aber in der EU-Grundrechtecharta und in der DSGVO verankert) und des Versammlungsrechts. Selbstverständlich unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit – und damit sollte klar sein, dass es hier keine einfachen Wahrheiten gibt. Wer die Prämisse akzeptiert, dass SARS-CoV-2 ein gefährlicher Virus und COVID-19 eine gefährliche Erkrankung ist, dem sollte auch klar sein, dass alleine die Abwägung zwischen des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit im Falle einer Pandemie in direkter Konkurrenz zu vielen anderen Grundrechten steht. Je nachdem, wie man hier Gefahren und Risiken einschätzt, ergibt sich für die Abwägung der Verhältnismäßigkeit natürlich ein komplett anderes Bild.
Was die Versammlungsfreiheit angeht, ist die Gesetzeslage ja per se schon in “normalen” Zeiten stark einschränkend. Zwang zur Anmeldung von – mindestens größeren – Demonstrationen, staatliche Stellen dürfen teilweise erheblich einschränkende Bedingungen für den Veranstalter formulieren und einfordern. Also alles nichts neues – in Stuttgart wurde ja gar mal eine von der AfD angemeldete Demonstration verboten, weil Randale von Gegendemonstranten befürchtet wurde.
Wer sich bezüglich der diversen Grundrechte und ihrer Einschränkungen und generell der Einschränkbarkeit im Detail informieren will, dem sei diese Webseite ans Herz gelegt (leider nicht in allen Teilen ganz aktuell, einige Teile sind noch Stand “vor der Corona-App” und “vor Ende Lockdown”, und insgesamt ist auch ein wenig politische Schlagseite rauszulesen). Wer auswendig den Unterschied zwischen Gesetz, Verordnung, Anordnung und Allgemeinverfügung durchdeklinieren kann und über die unterschiedlich gewählten Wege eines jedes Bundeslandes in der Corona-Zeit referieren kann, ist davon freigestellt. Ebenso Menschen mit starken allergischen Reaktionen bei durchgängig genderneutralen Formulier*ungen.
Jedenfalls kann man festhalten, dass sich zwar recht viele Bürger über vermeintliche und tatsächliche Einschränkungen beschwert haben, aber relativ wenige haben tatsächlich die Instrumente des Rechtsstaates in Anspruch genommen, um gegen diese Einschränkungen zu klagen. Zu viele Klagen rankten sich nach meinem Geschmack um Details wie “reicht dafür eine Allgemeinverfügung oder muss es eine Verordnung sein”, ohne substanziell die Frage der Abwägung der Verhältnismäßigkeit zu berühren. Im vorliegenden Fall einer dynamisch verlaufenden Pandemie ist möglicherweise der ja doch einige Zeit in Anspruch nehmende Rechtsweg auch gar kein geeignetes Mittel – allerdings sieht man daran schon, dass die Einschränkungen ja größtenteils sehr kurzfristiger und temporärer Natur waren.
Als jemand, der mit dem Mittel der Demonstration als angeblicher Grundpfeiler der Demokratie sowieso nicht viel anfangen kann (gegenüber anderen Grundrechten halte ich es für eher nachrangig, für mich hat es den Geschmack “wer am lautesten schreit bekommt seinen Willen”), sehe ich die Frage nach Einschränkungen des Versammlungsrechts zu Pandemiezeiten sowieso eher entspannt. Der geschätzte Blogger Werwohlf hat dazu viele kluge Gedanken zu Buchstaben und Sätzen geformt. Ich stimme nahezu jedem einzelnen Satz nachdrücklich zu.
Zum Abschluss eine Denkaufgabe: wenn man sich erinnert, dass aufgrund von Überschreitungen eines frei erfundenen (also nicht solide wissenschaftlich belegten, sondern politisch beschlossenen) Grenzwertes für den Luftschadstoff “Stickstoffdioxid” teilweise erhebliche Eingriffe in das Leben vieler vor Gericht durchgekämpft wurden, wenn man also diese gerichtlich festgestellte bzw. forcierte “Verhältnismäßigkeit” als Benchmark nimmt, ist es dann nicht geradezu zwingend ebenso verhältnismäßig, bei einer Großdemonstration unter Pandemiebedingungen Abstand und Masken als Bedingungen aufzuerlegen?
Und noch ein nun wirklich abschließender Lesehinweis nach dem eigentlichen Abschluss: ein launiger Kommentar von Thomas Fischer (also aus berufenem Juristenmund) bei SPIEGEL Online zum Thema “Verhältnismäßigkeit”. Herr Fischer mit seiner Kolumne ist vermutlich der einzige vernünftige Grund, das Relotiusblatt zu verlinken.