Jeder Virus, der Pandemie-Potenzial hat, wird unweigerlich in seinen verschiedensten Parametern mit vergangenen Pandemien verglichen. Die berühmte “Spanische Grippe” von 1918-1920 (Opferzahlen schwanken stark, irgendwo zwischen 20 und 50 Millionen Menschen weltweit), die Hongkong-Grippe Ende der 60er, und in den Nullerjahren die beiden Corona-Viren SARS-CoV und MERS-CoV. Und die meisten werden sich noch an die Schweinegrippe (H1N1, also derselbe Influenza-Stamm wie bei der Spanischen Grippe – 2009/2010) erinnern, einer der vielen Influenza-Untertypen. Dazu die “üblichen” Grippewellen, die je nach Wirksamkeit der vorangehenden Impfkampagne mal mehr oder weniger tödlich ausfällt, die letzte schwere Welle hat Deutschland 2017/2018 abbekommen (hochgerechnet etwa 25000 Opfer, der Virus wurde bei etwa 1800 davon nachgewiesen).
Nicht zu vergessen HIV, angeblich mit etwa 36 Millionen Todesopfern seit 1980 weltweit.
Die Gefährlichkeit eines Virus wird durch verschiedenste Parameter bestimmt. Wie sind die Übertragungswege? Wie infektiös ist ein Träger des Virus, und wie lange? Wie lange ist ein Träger infektiös, bevor sich Symptome einstellen? Gibt es klare Symptome oder unspezifische Allerweltssymptome? Wie viele Infizierte sterben? Gibt es einen wirksamen Impfschutz? Wie hoch ist der Bevölkerungsanteil, der sich als immun erweist bzw. nur leichte Symptome entwickelt? Gibt es eine wirksame Behandlungsmethode? Gibt es wirksame antivirale Medikamente? Gibt es womöglich dauerhafte Spätschäden bei Genesenen? Gibt es infektiöse Träger, die symptomlos sind? Wie lange ist man nach der Genesung vor erneuter Infektion geschützt? Wie einfach kann eine Infektion sicher nachgewiesen werden? Wie einfach wird er von Mensch zu Mensch übertragen? Wie kann man sich wirksam vor Infektion schützen? Gibt es Menschen, die besonders viele andere Menschen infizieren (“Superspreader”), und kann man diese einfach identifizieren? Gibt es einen einfachen Übertragungsweg von Mensch zu Mensch?
Nach dem jetzigen Stand der Wissenschaft muss man festhalten, dass SARS-CoV-2 zu den unangenehmeren Zeitgenossen seiner Zunft gehört. Die gängigen Übertragungswege sind hauptsächlich die Tröpfcheninfektion und wohl auch Übertragung über Aerosole (die ja letztlich sehr kleine Tröpfchen sind), die Virenlast die für eine Infektion ausreicht soll relativ niedrig sein. Schmierinfektionen (gängiger Übertragungsweg bei Grippeviren) spielen wohl eine eher geringe Rolle. Nach Ansteckung ist man relativ lange ohne erkennbare Symptome, es wird von mehreren Tagen berichtet, in denen man den Virus aber schon weitergeben kann, also selbst infektiös ist. Die Risikogruppe für einen schweren Verlauf sind Menschen mit Vorerkrankungen wie Schlaganfall, Herzinfarkt und Diabetes, aber auch Lungenschäden und starkes Übergewicht scheinen Risikofaktoren zu sein. Das Alter spielt eine wesentliche Rolle, da das Alter aber mit Vorerkrankungen korreliert, weiß man nicht genau, inwiefern “Alter” für sich genommen ein Risikofaktor ist. Logischerweise ist auch ein schwaches Immunsystem ein Problem, wie bei jedem Virus. Eine Impfung existiert noch nicht, ob nennenswerte Teile der Bevölkerung bereits immun sind ist ungeklärt, angesichts der Infektionszahlen aber eher unwahrscheinlich, dass das in der Breite der Fall ist.
Die CFR (“case fatality rate” – also die Todesrate unter den symptomatisch Erkrankten) liegt irgendwo zwischen 2% und 5% bei der typischen Altersverteilung in den Industrienationen, wenn die medizinische Versorgung optimal ist. In Deutschland liegt die CFR derzeit bei etwa 4%, Tendenz sinkend (was vermutlich mit den im Schnitt deutlich jüngeren Infizierten zu tun hat, aber genau weiß man das natürlich nicht). Und dann gibt es noch die IFR (“infection fatality rate”), ein Wert, der durch verschiedene Untersuchungen weltweit abgeschätzt wurde auf 0,4% bis 1%. Während bei der CFR normalerweise nur sicher infizierte mit Symptomen und dem typischen Krankheitsbild gezählt werden, wird die IFR über Antikörper-Feldstudien bestimmt und damit auch symptomfreie Virusträger erfasst. Die Heinsberg-Studie von Prof. Streeck war eine solche und kam auf eine IFR von rund 0,4%.
Die Infektiosität, die mit R0 bezeichnet wird (“attack rate” oder “transmissibility”, der deutsche Begriff aus der Infektionsepidemiologie ist “Basisreproduktionszahl”), ist die Zahl, wieviele andere Menschen von einem Infizierten im Durchschnitt angesteckt werden, und zwar für den Fall, dass keine Maßnahmen zur Unterbindung der Weiterverbreitung getroffen werden. Die Abschätzungen schwanken hier enorm, zwischen 1,4 und 4,0. Eine ziemliche Spanne. Aber es gibt hier natürlich auch zig Einflussfaktoren, die je nach Situation stark schwanken – beispielsweise die Bevölkerungsdichte. Und letztlich ist es ja auch im Verlauf einer Pandemie keine Konstante, sondern dynamischen Schwankungen unterworfen.
Vergleicht man nun SARS-CoV-2 mit einem “gewöhnlichen” Influenzavirus, so ergeben sich viele Gründe, warum man SARS-CoV-2 als gefährlicher einstufen muss:
- infektiöser, vor allem wegen der einfachen Übertragung per Tröpfchen und Aerosolen
- tödlicher (sehr viel größere CFR und IFR)
- höhere Wahrscheinlichkeit für Spätschäden, weil das ganze Organsystem betroffen ist und nicht z.B. “nur” die Lunge
- ungewöhnlich schwere Organschäden, bevor der Infizierte überhaupt Symptome bemerkt
- Symptome setzen erst spät ein (lange Inkubationszeit) und sind oft unspezifisch
- viele asymptomatische, aber trotzdem infektiöse Träger des Virus
- praktisch keine Vorimmunität in der Bevölkerung, keine Impfung verfügbar
- tendenziell größere Risikogruppe
- längere Hospitalisierungszeit, vor allem intensivmedizinisch
- größerer Anteil zu Behandelnder im Krankenhaus
- größerer Anteil zu Behandelnder auf der Intensivstation
Man könnte sagen, dass SARS-CoV-2 aus Virus-Sicht quasi einen “Sweet Spot” getroffen hat – lange nicht so tödlich wie Ebola, d.h. es bleibt genügend Zeit, um sich von Mensch zu Mensch zu verbreiten. Vor allem relativ lange unauffällig, so dass schon eine weite Verbreitung (in diesem Falle: weltweit) möglich ist, bevor wirksame Eindämmungsmaßnahmen getroffen werden können. Und für eine Verbreitung von Mensch zu Mensch einen guten Übertragungsweg gefunden. Dazu offenbar nicht so locker vom normalen Immunsystem bekämpfbar, d.h. der infizierte Mensch bleibt auch recht lange infektiös.
Um wieviel gefährlicher ist nun SARS-CoV-2 gegenüber einer schweren Grippewelle wie z.B. 2018/2019, als man mit dem Impfstoff gehörig daneben lag? Tja, das ist schwer zu sagen, extrem viele Faktoren spielen hier zusammen. Wenn man sich mal auf Deutschland beschränkt, müsste man wohl sagen, dass SARS-CoV-2 mit allen durchgeführten Maßnahmen etwa um Faktor 5 tödlicher ist als eine Grippewelle, die ganz ohne Maßnahmen “durchgelaufen” ist (und von deren Gefährlichkeit man eigentlich erst hinterher, als man die Übersterblichkeitsstatistik angeschaut hat, recht überrascht war).
Welchen Faktor man ansetzen muss, wenn das Gesundheitssystem, also insbesondere die Intensivstationen, überlastet sind und/oder Maßnahmen zur Eindämmung zu spät oder nur halbherzig ergriffen werden, das steht in den Sternen. Eine Antwort wie “50” wäre nach meiner Einschätzung nicht zu hoch gegriffen. Die Zahlen aus USA, UK, Spanien, Italien, Schweden, Belgien und Frankreich sprechen da eine eindeutige Sprache.
Wie dem auch sei: jeder, der behauptet, es handele sich bei SARS-CoV-2 um eine “gewöhnliche Grippe”, liegt nach derzeitiger Faktenlage komplett und völlig daneben. Ja, es sind beides Viren. Und man sollte seinen Körper möglichst gut auf eine mögliche Infektion vorbereiten (also das Immunsystem stärken – das fängt bei der Kontrolle des Vitamin-D-Spiegels an und hört bei der gesunden Ernährung nebst ausreichend Bewegung an der frischen Luft noch lange nicht auf), und man sollte sich von Situationen fernhalten, wo größere Infektionswahrscheinlichkeit droht. Selbst bei geringfügigen Situationen sollte man seine Mitmenschen vor Infektion schützen. Und damit enden die Gemeinsamkeiten: SARS-CoV-2 spielt bezüglich der Gefährlichkeit in einer völlig anderen Liga.