Anmerkung: eigentlich sollte der Artikel vor etwas mehr als einer Stunde publiziert werden. Also bitte alle relevanten Angaben wie „heute“ oder „gestern“ implizit anpassen.
Bevor weitere Betrachtungen zu bestimmten Themengebieten rund um die SARS-CoV-2-Pandemie und ihre Auswirkungen beleuchtet werden, will ich kurz einen Abstecher machen in eine genauere Analyse der derzeit aktuellen Zahlen rund um die Pandemie. Es gibt über die letzten Wochen einige Trends, die aber weltweit teilweise stark unterschiedliche Auswirkungen zeigen. Manches davon lässt mich ratlos zurück, insbesondere die Situation in Deutschland scheint immer mehr zum Sonderfall zu werden.
Zunächst zum Infektionsgeschehen. Logischerweise haben die diversen Lockerungen sowie bisher keiner erkennbaren relevanten Mutation des Virus dazu geführt, dass quasi überall die Infektionszahlen (aka „positive Testergebnisse auf SARS-CoV-2“) mehr oder weniger steil steigen. Wobei man bei der Interpretation der Zahlen immer berücksichtigen muss, inwiefern sich die Teststrategien der einzelnen Staaten über die Zeit entwickelt haben. Wenn nun in Deutschland pro Tag irgendwas um die 1500 laborbestätigte Neuinfektionen gemeldet werden, ist das in keinster Weise vergleichbar mit dem Beginn der Pandemie Mitte März, als ähnliche Größenordnungen am Start waren. Während nämlich Mitte März Tests fast ausschließlich bei starken Symptomen, und manchmal nicht mal dann (wenn z.B. häusliche Quarantäne ausreichte und keine Hospitalisierung erforderlich war), tatsächlich ein Test durchgeführt wurde (und konsequenterweise die Positivenquote der Tests bei knapp 10% lag), wird nun in der Breite getestet – Urlaubsrückkehrer (nicht nur aus Risikogebieten), wenn ein Krankenhausaufenthalt ansteht, bei leichten Symptomen, und die Routinetests für Arbeitnehmer in bestimmten Tätigkeitsfeldern (vor allem natürlich im Gesundheits- und Pflegebereich, aber sogar die Tests rund um die Fußball-Profiligen dürften in Deutschland einen nicht zu kleinen Anteil am Gesamttestgeschehen haben – man spricht von immerhin 35000 durchgeführten Tests von Saisonneustart bis Saisonende).
In KW12, also grober Stand „Beginn Pandemie“ und symptombezogene Testung, gab es deutschlandweit rund 350000 Tests und eine Positivenquote von knapp 7%. In KW37 – letzte Woche – waren es fast 1,2 Mio. Tests, und eine Positivenquote von lediglich knapp 0,9% (übrigens höher als zwischen KW27 und 29, als die Positivenquote um 0,6% schwankte und die Zahl der Tests bei vergleichweise niedrigen 0,5 Mio. lagen – soviel zur Hypothese „es gibt nur so hohe Infektionszahlen weil die Zahl der Tests gestiegen ist“). Die absoluten Zahlen an positiv Getesteten kann also in keinster Weise verglichen werden.
Die leider zu oft geführte Diskussion, ob das nun die „zweite Welle“ ist oder nicht, ist aus meiner Sicht komplett sinnfrei. Dazu müsste man erst mal spezifizieren, wann man denn von einer „Welle“ sprechen will. Wenn die Zahl der Infektionen einen Aufwärtstrend zeigt? Einen starken Aufwärtstrend? Wie stark denn genau? Oder doch nur die Zahl der symptomatisch Erkrankten berücksichtigen? Oder die Zahl der hospitalisierten Erkrankten? Oder nur die der schwer Erkrankten in Behandlung auf einer Intensivstation? Je nach Betrachtung hat man dann schon die achtzehnte Welle oder noch nicht mal die zweite. Wie ich sagte – sinnfrei.
Beobachtet man das DIVI-Intensivregister über die Zeit, stellt man außerdem fest, dass die Zahl der COVID-19-Patienten auf eher niedrigem Niveau verharrt. Der Höhepunkt der Erkrankungszahlen war um den 18.April – etwa 3 Wochen nach dem Höhepunkt der Infektionszahlen übrigens – und lag bei knapp 3000 Patienten in intensivmedizinischer Behandlung, von denen knapp 2200 invasiv beatmet wurden. Für heute 12.30h wurden aber lediglich 238 COVID-19-Erkrankte in intensivmedizinischer Behandlung, von denen 135 invasiv beatmet werden. Und diese Zahlen sind seit längerer Zeit stabil, d.h. die Erhöhung der Infektionszahlen von täglich 250 bis 500 zwischen Mai und Juli auf die oben genannten aktuell 1500 im 7-Tage-Mittel schlagen sich nicht auf die Anzahl der schweren Verläufe durch. Die Todeszahlen zeigen ein ähnliches Bild, hier liegt Deutschland bei 5-10 Todesfällen pro Tag seit Juni bis heute im 7-Tages-Mittel. Was übrigens immer noch im vermuteten Rahmen der IFR von SARS-CoV-2 um die 0,5% liegt.
Interessant daran ist, dass die Zahlen in Deutschland hier eine Sonderstellung einnehmen. Im europäischen Vergleich sieht man ja beispielsweise in Frankreich oder Spanien kräftig steigende Infektionszahlen, aber dort steigen auch die Todeszahlen mit der bekannten 3-wöchentlichen Verzögerung ebenfalls merklich an: Spanien meldet seit 7.August stetig teils deutlich über 4000 Neuinfektionen täglich, und von der einstmals niedrigen einstelligen Todeszahl pro Tag in Juni und Juli hat man jetzt zuletzt schon über 50 Tote pro Tag zu beklagen. Also ein IFR von tendenziell über 1%, ohne dass es zu einer Überlastung bei der medizinischen Versorgung gekommen wäre. Gestern lag die Zahl der Toten gar bei 239, aber die täglichen Zahlen in Spanien schwanken stark, so dass das als Einzelwert keine Aussagekraft hat. Man wird abwarten müssen, wie sich die Zahlen weiter entwickeln.
Beispiel Frankreich: seit Ende Juli im Aufwärtstrend bei den Neuinfektionen pro Tag von etwa 600 auf in den letzten Tagen über 8000. Hier waren die Todeszahlen nie auf ganz niedrigem Niveau wie in Spanien, eigentlich immer im zweistelligen Bereich. Aber man sieht in den letzten Tagen nun statt diesen 10 Toten pro Tag bereits um die 30. Nimmt man die übliche 3-Wochen-Verzögerung zwischen Infektionszahlanstieg und Todeszahlanstieg, muss man diese 30 mit den Infektionszahlen von Ende August ins Verhältnis setzen, die lagen bei etwa 4000 pro Tag. Also ein IFR von deutlich unter 1%, also eher der deutschen Situation ähnlich.
Beispiel Österreich: hier gibt es einen fleißigen Statistik-Blogger, der täglich die Situation detailliert berichtet (beispielsweise hier der heutige Bericht). Im Gegensatz zu Deutschland sieht man in Österreich einen deutlichen Anstieg bei der Hospitalisierungszahl und der Zahl der intensivmedizinisch behandelten Patienten.
Woran liegt es nun, dass beispielsweise die Zahlen in Österreich ein anderes Bild zeigen als in Deutschland? Es könnte mit der Altersstruktur der positiv Getesteten zusammenhängen und/oder einem vorsichtigeren Verhalten der Risikogruppe hierzulande oder mit feinen Unterschieden bei den ergriffenen Maßnahmen und/oder deren Befolgung. Österreich hatte zwischenzeitlich die Maskenpflicht ja wieder aufgehoben und auch diverse Beschränkungen bezüglich erlaubter Personenzahlen bei Feiern o.Ä. – man darf nicht vergessen, dass manche Maßnahmen (Abstand, Maskenpflicht, keine größeren Versammlungen in geschlossenen Räumen etc.) ja nicht unbedingt auf eine absolute Verhinderung der Ansteckung abzielen, sondern auf eine möglichst große Reduktion der Virenlast, was nach heutigem Kenntnisstand zu einer milderen Erkrankung führt.
Generell ist es bei einem kleinen Land wie Österreich aber schwierig, bei einer vermuteten IFR von 0,5% eine Bewegung bei der Zahl der Toten wirklich auszumachen, bei 1000 Neuinfizierten pro Tag ergibt das ja nur eine einstellige Zahl, da spielt Kollege Zufall logischerweise eine größere Rolle. Auch zu COVID-19-Hochzeiten lag das 7-Tage-Mittel in Österreich ja bei rund 20 Toten pro Tag, da ist statistisches Rauschen sicherlich nicht unerheblich.
Noch ein Wort zur oben behaupteten 3-Wochen-Verzögerung zwischen Anstieg der Neuinfektion und proportionalem Anstieg der Totenzahlen: zu Anfang der Pandemie war diese Verzögerung eher bei 1-2 Wochen. Ein begründeter Verdacht, warum dieser Zeitraum länger wurde, ist die größere Testintensität – man findet die Infizierten also, bevor sie Symptome entwickeln – und die verbesserte medizinische Behandlung aufgrund gewonnener Erkenntnisse und größerer Routine. Auch hier also entwickeln sich die Zahlen „dynamisch“, und man darf die Erkenntnisse von gestern nicht unbedingt für morgen als gegeben voraussetzen.